Ingrid ist jung, intelligent und eine engagierte Literaturstudentin, als sie von ihrem Dozenten Gil umgarnt wird. Der Professor und Schriftsteller ist um Jahre älter als sie, ein liebenswerter Chaot, der seine Schäfchen für sich und die Literatur zu begeistern weiss. Er verguckt sich in Ingrid und lässt sie wissen, dass er sie als die Frau an seiner Seite und zukünftige Mutter seiner Kinder sieht. Angetan von den Avancen dieses erfahrenen Mannes ignoriert Ingrid die Ratschläge sämtlicher Freunde, die Finger von ihm zu lassen. Sie wird schwanger, wirft all ihre Lebensentwürfe über Bord und folgt ihm in sein Haus ans Meer. Eheleben, Kinder und Alltag werden für Ingrid zu «Swimming Lessons», wie es der englische Titel des Buches von Schriftstellerin Claire Fuller so treffend beschreibt.
Die Wahrheit in 22 Briefen
Gil, der wegen der Affäre mit Ingrid schon bald seinen Job an der Uni verliert, ist als Schriftsteller nur halb so erfolgreich, wie er selber denkt. Und Ingrid fühlt sich als Ehefrau und Mutter zweier Töchter nicht sehr wohl in ihrer Rolle. Das Geld ist häufig knapp, doch fehlt Gil die Einsicht, welches zu beschaffen. Zudem nimmt er es mit der Treue nicht so genau.
Mehr als 15 Jahre und sechs Schwangerschaften später verschwindet Ingrid eines Tages. Sie sei beim Schwimmen im Meer ertrunken, glaubt man. Ihre Leiche wird nie gefunden. Dafür aber entdeckt Gil in seiner Bibliothek nach und nach Briefe von seiner Frau. Jeder ist in einem anderen Buch abgelegt. Fein säuberlich hat Ingrid darin aufgeschrieben, was sie ihrem Ehemann nicht sagen konnte: «Die Wahrheit über ihre Ehe von Anfang an.»
«Bestimmt schreibe ich Dinge, von denen Du sagen wirst, ich hätte sie mir eingebildet, hätte sie geträumt oder erfunden, aber das ist meine Sicht der Dinge. Das hier ist meine Wahrheit», lässt Ingrid ihren Mann wissen. Distanziert und sachlich erzählt sie ihm in 22 Briefen von den gemeinsamen Jahren und bringt sämtliche Fakten auf den Tisch, die Gil ihr verschwiegen hat. Sie berichtet ihm aber auch von eigenen einschneidenden Ereignissen, von denen sie ihm nie erzählen konnte: etwa von zwei Schwangerschaften, die in Aborten endeten, oder von ihren Erklärungsnöten gegenüber den Kindern, wenn er monatelang von der Familie wegblieb.
Eine verkappte Liebesgeschichte
Während Ingrid in ihren Briefen die Umstände darlegt, die sie zur Flucht aus dieser ausweglosen Situation zwingen, handelt der zweite Erzählstrang im Roman in der Gegenwart – 12 Jahre nach Ingrids Verschwinden. Der gealterte Gil ist an Bauchspeicheldrüsenkrebs erkrankt und hat nicht mehr lange zu leben. Von den entdeckten Briefen erzählt er seinen beiden Töchtern nichts. Was er und die Leser über die Umstände des Abtauchens ihrer geliebten Mutter wissen, sollen Gils Kinder nie erfahren.
«Eine englische Ehe» ist die dramatische Geschichte über eine vermeintliche Liebe zweier Menschen, die sich gesucht und doch nie gefunden haben. Trotz aller Tragik wunderbar erzählt und fesselnd bis zum Ende.
Buch
Claire Fuller
Eine englische Ehe
368 Seiten
Aus dem Englischen von Susanne Höbel (Piper 2017).