Ich bin eine Leseratte, und Leseratten sind leicht zu erkennen: Ihr Kopf steckt ständig in einem Buch. Seis im Zug, auf dem Skilift, beim Spaziergang am Fluss, sie lesen zu allen Zeiten, bei jeder Aussentemperatur, bei jeder Körpertemperatur, in allen Stellungen. Früher im Skilager: Die Leseratte liegt flach auf dem Boden im Gruppenraum unter dem Esstisch, einen Hesse in den Händen haltend, während sich die Klasse über ihren Kopf hinweg mit Älplermagronen bewirft. Findet sie nichts zu lesen, liest die Leseratte Inhaltsangaben von Lebensmittelverpackungen. Als Zensorin besässe sie eine umfangreiche Sammlung verbotener Bücher aus konfiszierten Beständen. Als Diktatorin läse sie alle Neuerscheinungen selbst, bevor sie sie verbieten müsste. Als Analphabetin läse sie die Sterne.
Es gibt Leseratten, die lesen gewissenhaft von vorne bis hinten, sie aber nach dem Namen des Autors zu fragen, grenzt an Beleidigung. Andere lesen den Anfang, überfliegen die Dialoge in der Mitte und zögern den Schluss hinaus. Max Küng (Leser und Velofahrer) wechselt die Kette des Fahrrads und übt das Umblättern mit der Zunge, um die Seiten nicht zu beschmutzen. Matto Kämpf (Leser und Vater) füttert das Kind mit Spinat, während er einen Groschenroman liest. Alex Capus (Leser und patentloser Wirt) starrt Recherchematerial so lange an, bis es ihm freiwillig preisgibt, was er wissen will. Gab man Werner Morlang (Leser und bibliophil) ein Buch in die Hand, so kümmerte ihn der Inhalt nicht im Geringsten, da er eh schon alles intus hatte. Er klappte die Buchdeckel auseinander, so dass das Buch in seiner Hand aussah wie ein Insekt, das die Flügel spreizt. Dann blickte er durch die hohle Röhre zwischen Rücken und Block des Buches und urteilte mit missfälligem Blick: «Fabrikschund».
Apropos Schund: Dass ein jedes Buch einmal einen festen Buchpreis gehabt hat, ist ein grobes Zeichen dafür gewesen, dass es einen Selbstwert hat. Was zu lesen sich lohnt, entscheidet jede und jeder selbst. Leseratten gehen den Weg der Liebe, nicht den der Pflicht. Die eine neigt zu fantastischen Lügenwelten, die andere bevorzugt in Ordentlichkeit mündende Liebesverhältnisse, die das eigene emotionale Chaos lindern. Die eine sucht weisen Rat, die andere verliert sich in nahezu weglosem Gelände. Die eine mag nervenaufpeitschende Schilderungen der Sache mit den drei Buchstaben, die andere die sanfte Langeweile eines Diogenes-Krimis. Wer in die Zukunft schauen will, stellt eine Frage und sucht in einer zufällig gewählten Textstelle die Antwort: «Sag mir, Schrift, wie wird der Sommer?» «Piranhas! Auch das noch.»
Leseratten können dir nicht unbedingt sagen, wie die Figuren heissen, worums geht und was sie daraus für Erkenntnisse gewinnen. Manche sind dazu verdammt, jeden Abend immer wieder mit dem ersten Kapitel zu beginnen, da sie die Nacht dazu nutzen, das Gelesene zu vergessen. Aber sie werden dir begeistert mitteilen, dass ihnen die Lektüre Vergnügen bereitet. Würde sie ihnen kein Vergnügen bereiten, hätten sie das Buch längst weggelegt und wären zu einem anderen Buch übergegangen. Die Neugier und der ständige Nachschub an neuen und neuen alten Büchern verbietet es Leseratten, Zeit an ein Werk zu verschwenden, das sie nach wenigen Sätzen erschöpft. Auf einer Party stehen sie abseits am Fenster, sehen dem Gewitter zu, und die eine sagt nur: «Werther!» Die andere versteht sofort die Anspielung, und voller Begeisterung über solche geistige Nähe küssen sie sich unter Tränen die Hand. Die Welt dreht sich weiter ohne sie. Bei der Besetzung von Regierungsposten ist Nichtbüchermenschen der Vorzug zu geben.
Letzten Frühling, als alle Läden geschlossen wurden, war ich von einem Tag auf den anderen abgeschnitten von meiner Buchversorgung. Meine Wohnung ist zwar voller Bücher, stimmt. Auch viel Ungelesenes liegt herum, stimmt. Was mich bis dato nicht zum Lesen gereizt hat, reizt mich jetzt eben auch nicht. Lustlos blätterte ich mich durch Online-Buchläden, aber es war nicht dasselbe. Ich sah mich schon Altpapierbündel durchwühlen, ich sah mich schon zerfetzte, dreckige, zerrissene, befleckte, eselsohrige, einbandlose, undatierte Reader’s Digest Auswahlbücher heimtragen, da rettete mich eine Nachbarin im Wohnblock vis-à-vis. Beinahe täglich stellte sie eine Kiste mit Büchern auf die Strasse. Von Werner Schmidlin bis Patricia Highsmith, von Verena Stefan bis Sylvia Plath, liess sie mich die 70er-Jahre nachholen. Ich steckte ihr einen Dankesbrief in den Briefkasten, und sie bedankte sich mit einem Dankesbrief für den Dankesbrief. Es stellte sich heraus, dass sie Buchhändlerin gewesen war und sich auf den Umzug ins Altersheim vorbereitete. Irgendwann war der Lockdown vorbei, ihr Büchergestell ausgemistet und sie umgezogen. Der Briefwechsel wird fortgesetzt und liegt bestimmt einmal in Buchform vor. Unter dem Titel «Leseratten im Lesefieber» verhandeln wir die drängenden Fragen der Büchermenschen: Kann man zu viel lesen? Darf man Seitenränder mit Anmerkungen schmücken? Darf man signierte Bücher ins Antiquariat geben? Vor- und Nachteile des Lesens beim Wassertreten. Darf man Seiten herausreissen? Weshalb werden Badezimmerschränkchen so schmal gebaut? So finden nur Manesse-Bändchen drin Platz! Es wird ein Buch von Büchermenschen, das von Nichtbüchermenschen benutzt werden kann, um vierblättrigen Klee zu pressen oder um es unter ein wackliges Möbel zu stellen.
Ich beneide Nichtbüchermenschen. Wie schnell müssen sie für die Ferien gepackt haben. Wie leicht ist ihr Handgepäck.
Christoph Simon
Christoph Simon (*1972) ist Schriftsteller und Kabarettist und lebt in Bern. Sobald die Bühnen wieder öffnen, tourt er mit seinem Solo-Programm «Der Suboptimist» durch die Schweiz. In Buchform sind zuletzt erschienen: «Die Dinge daheim» (Edition Taberna Kritika 2021) und der Gedichtband «und das nach vier milliarden jahren evolution» (Edition Merkwürdig 2021). 2018 hat Christoph Simon den Salzburger Stier gewonnen.