In Zürich, gleich oberhalb vom Central, wohnt das Sprachgedächtnis der Deutschschweiz. In einem unscheinbaren Haus treten wir in eine zimmerreiche Altbauwohnung mit Parkett und Bücherregalen, die bis unter die Decke mit schweren Folianten und anderem gewichtigem Material gefüllt sind. Hier, beim Idiotikon, wird der schweizerdeutsche Wortschatz der letzten 700 Jahre dokumentiert. «Als ich anfing», sagt Chefredaktor Christoph Landolt, «sassen wir der Anciennität nach am Sitzungstisch».
Heute sei die Arbeitsweise im Team entspannter, auch wenn es ungleich mehr zu tun gebe. Zum Beispiel für die beliebte Radiosendung «Dini Mundart», wo Fachredaktoren des Idiotikons regelmässig zur Herkunft von Familiennamen Auskunft geben.
Auf den Spuren des Filmtitels
Was es mit der sprachlichen Vielfalt unserer Heimat auf sich hat, ist nun auch im Dokumentarfilm «Omegäng» von Aldo Gugolz zu sehen. Antrieb des Regisseurs war unter anderem das «Totemügerli» von Franz Hohler, der im Film neben Pedro Lenz oder Rapperin Big Zis Auskunft zu seinem Verständnis von Mundart gibt. Seltsam bloss: Wer «Omegäng» in der Onlinemaske des Idiotikons eingibt, erhält keinen Treffer.
Wo ist das Wort geblieben? «Diesen Ausdruck gibt es so nicht», erklärt Christoph Landolt. «Omegäng» sei ein Kompositum aus «ume» und «gäng» plus «hü», was so viel bedeute wie «immerzu vorwärts». Einen Nachtrag im Wörterbuch, Kernaufgabe des Idiotikons, wird es deshalb vermutlich nicht geben. Vieles andere muss aber laufend überarbeitet und ergänzt werden. Schliesslich ist dieses Mammutwerk seit 1862 in Arbeit. Nicht ohne Stolz bestätigt Landolt, dass ihm die Ehre zufallen könnte, den letzten Band dieses Wörterbuchs herauszugeben.
«In zehn Jahren könnte es so weit sein.» Inzwischen sei man beim Buchstaben «Z» angelangt. Der Chefredaktor hat selbst zahlreiche Artikel verfasst, darunter einen 40-seitigen Text zu «z» beziehungsweise «zue», für den er zweieinhalb Jahre benötigte. «Jede Redaktorin und jeder Redaktor forscht bei uns nicht zu einzelnen Wörtern, sondern zu Wortfamilien», erklärt Landolt. «Unsere Basis ist ein Sammelsurium von Zetteln und Exzerpten, vieles davon in alter Kurrentschrift.»
Das seien im Extremfall bis zu 5000 Belege pro Wort. «Wobei ich 80 Prozent der Ausdrücke und ihrer Bedeutungen zuvor gar nicht kannte.» Umso grösser ist die Herausforderung, solche oft schon ausgestorbenen Lexeme zu dokumentieren. Dafür recherchieren alle Redaktoren autonom, aber während der Korrekturphasen trifft man sich wöchentlich, um die einzelnen Wortartikel durchzugehen und die unterschiedlichen Meinungen abzugleichen. Welche Variante schaffts denn ins Wörterbuch?
Landolt lächelt. «Bei uns gibts keinen dominierenden Chef. Es zählt immer nur das beste Argument.»
Omegäng
Regie: Aldo Gugolz
CH 2024, 76 Minuten
Ab Do, 18.4., im Kino
Christoph Landolts Kulturtipps
Literatur
Thomas Savage: Die Gewalt der Hunde (btb 2021)
«Montana in den 1920ern: Ein Rancher führt einen erbarmungslosen Kampf gegen seine Schwägerin und ihren Sohn.»
Film
Joe Wright: Atonement (DVD, div. Streaminganbieter)
«Die kongeniale Verfilmung von Ian McEwans Roman von 2001: Eine unbedachte Anschuldigung führt zur Zerstörung zweier Leben. Die tragische Wahrheit eröffnet sich dem Zuschauer erst zum Schluss.»
Musik
Schmaz in Space
«Der Schwule Männerchor Zürich begibt sich auf eine Reise durchs Weltall und bietet eine breite Werkauswahl dar: von Schubert und Bruckner über Mini und Mika bis zu Kylie Minogue.» Ab Sa, 2.11. Theater Rigiblick, Zürich