Abends wirkte das libanesische Elektrizitätswerk gegenüber unserem Hotel imposant. Beim Frühstück entpuppt es sich als marodes Hochhaus. «Das ist wie bei uns: Nachts machen wir eine gute Falle, und am Morgen sehen wir aus wie Ruinen», sagt einer der Musiker und hat recht. Wir haben unsere erste Nacht mit Arrak hinter uns, einem traditionellen Getränk aus Anisschnaps.
Der Flug nach Beirut dauert gut drei Stunden. An Bord das Trio Koch/Schütz/Studer (KSS), das vom Veranstalter Ziad Nawfal für drei Konzerte in den Libanon eingeladen wurde. In das kleine Land mit etwa fünf Millionen Einwohnern, das von Syrien und dem Meer umrundet ist und am untersten Zipfel an Israel grenzt. In jüngster Zeit wurden hier gegen zwei Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen. Da fliegen wir also hin. Aus dem sicheren Hafen. Im Gepäck die Hörner von Hans Koch, das elektrische Cello von Martin Schütz, die Cymbals von Fredy Studer. Das Trio KSS bringt improvisierte Musik ins Land. Wofür? Warum sollen Menschen mit so vielen Sorgen ein offenes Ohr für schräge Töne haben? Statt Musiker aus dem behüteten Helvetien zu begleiten, sollte ich besser über die Flüchtlinge berichten. Auch das war geplant. Aber schnell ist klar: Die importiert-improvisierte Musik von KSS kann nicht mit dem Drama in nächster Nähe verknüpft werden.
Vom Flughafen führt eine Schnellstrasse ins Zentrum, seelenruhig kurvt Ziad durch den halsbrecherischen Verkehr. «Wer sich hier über andere Leute aufregt, ist im Dauerstress. Darum lässt man das besser sein», sagt er mit feinem Lächeln und meint damit mehr als den Verkehr. Wer immer hier lebe, arrangiere sich mit der latent unsicheren Situation und versuche, ruhig zu sein, ruhig zu werden. Aber der Krieg in Syrien, die angespannte Situation im Libanon und auch im überfüllten Beirut seien ständig im Kopf. «Und wer weiss schon, wie schnell sich alles ändern kann?», sagt der 45-Jährige. Abends hängen wir an der angesagten Ausgehmeile in Mar Mkhaiel ab. Die Stimmung ist entspannt, das Publikum gemischt, und es wird flott getrunken. In 40 Kilometern Luftdistanz ist an der syrischen Grenze die Hölle los. Hier ist davon etwa gleich viel zu bemerken wie an der Langstrasse in Zürich. Das ist schräg, aber so ist es. In anderen Quartieren sieht es anders aus. Das stellen wir an einem der nächsten Abende in Hamra fest. Zwar blüht das Nachtleben genauso. Aber es wieseln mehr Kinder mit Rosen herum, und an den Strassenecken sitzen auf Kartons Gruppen von Frauen, die kein Dach über dem Kopf und auch sonst nichts mehr haben. An ihnen gehen wir vorbei, bemühen uns um Normalität, und ich fühle mich beschissen.
Am nächsten Morgen kurven wir durch die Agglomeration, um ein akustisches Cello zu holen, das uns jemand ausleiht. Die Strassen sind heruntergekommen, ein beissender Gestank zieht auf. Sämtlicher Müll von Beirut wird hier seit Monaten zu riesigen Bergen aufgetürmt, eine Lösung ist nicht in Sicht. Wir steigen in den dritten Stock eines unauffälligen Hauses hoch und stehen unvermittelt im Wohnzimmer der Bernerin Brigitte Muller. Die Cellistin lebt seit zwölf Jahren mit ihrem Mann und zwei Töchtern in Beirut. Sie spielt beim Libanesischen Sinfonieorchester. «Mit dem Fulltime-Job verdiene ich 1200 Dollar im Monat, das ist kläglich angesichts der hohen Lebenskosten.» Auch Ziad weiss, wie schwierig es für Musiker ist, die sich in der kleinen Szene für improvisierte Musik bewegen. «Geld verdienen kann man damit nicht.» Die Musiker leben von Auftritten im Ausland oder haben Paralleljobs, so wie Ziad selber. Er moderiert Radio-Sendungen, legt als DJ auf und produziert mit seinem Label Vinyl/Schallplatten für elektronische Musik. «Alle Jobs zusammen geben mehr oder weniger genug her zum Leben.»
Das «Onomateopeia» ist eher ein Quartiertreffpunkt als ein Konzertlokal. Alles, was hier auf die Beine gestellt wird, muss sich selber finanzieren. Eine Kulturförderung, wie wir sie kennen, gibt es nicht. Rund 40 Leute sitzen um das Trio herum, das seine Sachen in einer Ecke aufgebaut hat und loslegt. Koch gurgelt, Studer pocht, Schütz vibriert. Nach dem Konzert essen wir in einem syrischen Lokal Spezialitäten aus Aleppo. Zur selben Zeit werden dort bei einer Offensive erneut Hunderttausende Menschen traumatisiert. Darunter bestimmt Freunde und Verwandte der Syrer, die sich hier etwas aufzubauen versuchen. Wie schwer muss es sein, unter diesen Umständen Granatapfel-Delikatessen zu servieren und dazu freundlich zu lächeln.
Auf dem Weg zum nächsten Konzert schlendere ich durch das armenische Viertel und treffe auf eine Gewürzhändlerin. Die selbst einmal geflohene Armenierin monologisiert, dass Europa keine Flüchtlinge aufnehmen sollte. Sie werde bestimmt keinen Urlaub mehr in Europa machen, sagt sie. «Zu gefährlich wegen Terroranschlägen!» Ich muss lachen, weil es für uns gerade umgekehrt ist. «Nach Beirut? In den Libanon? Das ist doch viel zu gefährlich!», habe ich vor meiner Abreise oft gehört.
Weiter gehts auf verschlungenen Pfaden zum Art Center Beirut, das abgelegen zwischen Autostrassen und Industriegebäuden liegt. Kein Wunder, haben nur wenige Leute den Weg gefunden. Hier im Kinosaal vertont das Trio KSS gemeinsam mit dem Klarinettisten Paed Conca einen Stummfilm. Nach 70 Minuten ist der rumorende Spuk vorbei, wir drängen uns in ein Auto und fahren zurück ins Zentrum.
Der letzte Gig im Rockklub Yukunkun. Um 22 Uhr eröffnen die libanesischen Gitarristen Fadi Tabbal und Salim Naffah mit der Oud-Spielerin Youmna Saba, danach brettern KSS los. Genauso gut könnten wir im Mullbau Luzern oder in der Wim Zürich sein, wo das Publikum meistens ebenso spärlich erscheint. Später geht es von einer proppenvollen Bar in die nächste. Der Krieg ist nahe, aber hier ist er nicht.
Irgendwann bin ich im Hotel und schlafe noch eine Stunde, bis das Taxi kommt und uns am Flughafen wieder ausspuckt. Vier Stunden später steigen wir in Genf in den Zug und dämmern erschöpft vor uns hin. In Luzern stellen wir fest, dass unterwegs durchs schöne Mittelland Studers Reisetasche geklaut wurde. So viel zum sicheren Hafen Helvetien und den Klischees, die es hüben wie drüben gibt.
Christine Weber
Geboren 1970. Nach einer pädagogischen Ausbildung sattelte Christine Weber auf Kultur und Journalismus um. Seit 2001 ist sie Inhaberin der Agentur Wort & Ohr und arbeitet als Journalistin, Redaktorin und Kolumnistin für verschiedene Zeitschriften. Als Projektleiterin schreibt und produziert sie zudem Radionovelas und unterstützt Kulturschaffende in administrativen und organisatorischen Belangen. Die Autorin lebt in Luzern.