Ich habe ein Zimmer auf Sansibar. Darin stehen ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl und eine Kommode. An der Decke dreht der Ventilator seine immer gleichen Runden. Die Wände sind kobaltblau – wie der Himmel hinter den Fenstern, die keine Scheiben tragen. Von draussen dringen die Geräusche der Stadt zu mir herauf. Die Veloklingel des alten Mannes, der mit einem Korb voller kleinster Fische durch Stone Towns Gassen fährt und sie zum Verkauf anpreist. Die Stimmen der Frauen, die im Gemüseladen vis-à-vis um den Preis der Mangos feilschen. Und immer wieder das Krähen des zeitvergessenen Hahns, morgens, mittags, abends und mitten in der Nacht.
Mein Zimmer liegt unter dem Wellblechdach im zweiten Stock, der sich anfühlt wie die vierte Etage. Die Räume sind so hoch gebaut, als wäre das Haus für Giraffen konzipiert worden. In den unteren Stockwerken lebt die Familie von Shahdust, zuoberst liegen die Gästezimmer, die eigentlich keine Gästezimmer sein dürften und daher nur unter der Hand zu haben sind. Das desolate Klo und die altertümliche Küche teile ich mit Menschen, die ebenfalls auf verschlungenen Wegen in diesem Haus gelandet sind. Mal mit einem Kunstmaler, der hier ein Bild für eine Ausstellung entwarf, das schliesslich so gross wurde, dass es nicht mehr durch die Tür der Ausstellungshalle passte und demnach draussen bleiben musste. Mal mit einem radfahrenden Weltreisenden, der bankrott in Stone Town strandete und mittlerweile auf der Insel ein eigenes Mode-Label vertreibt. Oder mit einer jungen Frau aus Alaska, die einen Waisenbuben der Masai aufgenommen hatte und neben deren Zimmertür des Nachts stets ein Wächter seines Stammes sass, um mich fast zu Tode zu erschrecken, wenn ich zu später Stunde aufs Klo musste. Die Mauern dieses Hauses könnten wilde Geschichten erzählen; womöglich ist es ein Segen, dass sie so schweigsam sind. Sicher ist: Es sind Geschichten von Menschen, die furchtlos die Hürden des Lebens genommen haben, weil sie an sich glaubten.
Um Furcht und Furchtlosigkeit, um Angst und Mut soll sich auch dieser Text drehen – und um meinen Eindruck, dass der Umgang damit hier wie dort nicht der gleiche ist. Der Blick auf das Leben ist unterschiedlich, je nachdem, woher er fällt und auf welchem Kontinent man steht.
Durch die Ereignisse der letzten Jahre hat sich in Europa die Furcht zurück in unser Dasein gedrängt. Zuerst kam Corona, dann kam uns der Krieg auf einmal nahe – und plötzlich beisst uns die Angst in den Nacken, wie wir sie so in unserem gemütlichen Leben schon lange nicht mehr gespürt haben. Manche können besser damit umgehen, manche weniger, andere flüchten sich in Verschwörungstheorien, weil sie im Umgang mit den Krisen scheitern. Kein Wunder, tun sich viele schwer damit; wir sind uns Unsicherheit nicht mehr gewohnt, weil wir so eifrig an unserem Sicherheitsnetz gestrickt haben – wir sind hausratsversichert, lebensversichert, reiseversichert, bausparversichert, annulationsversichert, krankenversichert, rentenversichert, brandschutzversichert, arbeitslosenversichert, voll und ganz und rundum abgesichert. Doch auf einmal stellen wir fest, dass unsere falsche Sicherheit so sicher doch nicht ist. Eine späte Erkenntnis, die viele das Fürchten lehrt.
In Sansibar ist gar nichts sicher. Hier fühlt sich das Leben ganz anders an als in der Schweiz. Tansania, zu dem der Sansibar-Archipel gehört, zählt zu den ärmsten Ländern der Welt. Nicht zuletzt – aber nicht nur – deshalb gehen die Menschen hier anders um mit Unsicherheit, mit Krankheit, Bedrohung, Angst und Tod. Vieles, was in Europa selbstverständlich ist, existiert in vielen Ländern Afrikas nicht. Krankenversicherung? Die Gesundheitsversorgung auf Sansibar ist ein Debakel; man ist gut beraten, alles daranzusetzen, nie ein Spital von innen sehen zu müssen. Sozialversicherungen? Die meisten Menschen haben hier nicht einmal ein Bankkonto. Man lebt von der Hand in den Mund, was zählt, ist der Moment, was morgen sein wird, wird man dann morgen sehen. Im Voraus planen funktioniert nicht, weil hier fast nichts funktioniert. Wer dennoch etwas planen will, braucht neben Plan B einen Plan C, einen Plan D, einen Plan E – falls er Glück hat, geht Plan F dann tatsächlich auf.
Trotz all der Unsicherheiten hat in den Köpfen hier die Angst kaum Platz. Die Coronakrise? Seit Jahren sterben hier Menschen an Malaria, in den Nachbarländern wütete schon Ebola. Die drohende Hungerkrise wegen des Kriegs in Europa? Es ist nicht die erste, die man zu überstehen hat. Fast scheint mir: In Ostafrika sind die täglich drohenden Gefahren realer, während die Ängste kleiner sind – weil man mit Angst die Gefahr nicht besiegt. «Die Furcht vor der Gefahr ist schrecklicher als die Gefahr selbst», besagt ein afrikanisches Sprichwort.
Vielleicht sind wir in Europa ängstlicher, weil es uns lange sehr gut ging. Womöglich setzen uns die Krisen mehr zu, weil wir uns jahrzehntelang in falscher Sicherheit wiegten. Vor lauter Wohlstandsproblemen haben wir verdrängt, dass das Leben per se gefährlich ist. Allein auf diese Welt zu kommen, birgt ein immenses Risiko. Keiner von uns wird das überleben. Wir haben vergessen, dass jedes Lebensjahr ein Geschenk ist, eine Möglichkeit, eine Herausforderung – aber alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Es ist erstaunlich, wovor wir uns im Kleinen fürchten – wenn wir uns bewusst machen, dass wir Tag und Nacht in einem Höllenkaracho (mit 107 000 Kilometern die Stunde, um genau zu sein) auf einer kleinen Kugel durch das Weltall brausen. Was für ein mutiger Höllenritt, ganz ohne Steuermann an Bord!
Die Angst bremst unser Leben aus – obwohl sie, wie sich im Nachhinein zeigt, in den meisten Fällen unbegründet ist. Ein anderes afrikanisches Sprichwort lautet: «Angst frisst Seelen auf.» Lassen wir den Mut die Angst auffressen. Denn erst wer die Angst überwindet, ist wirklich frei.
Christine Brand
Christine Brand (* 1973) ist im Emmental aufgewachsen. Sie hat das Lehrerseminar abgeschlossen und lange als Journalistin und Gerichtsreporterin, u.a. bei der «NZZ am Sonntag», gearbeitet. 2018 hat sie sich als Schriftstellerin selbständig gemacht und stürmt mit ihren Krimis, die oft auf wahren Fällen basieren, regelmässig die Bestsellerlisten. Zurzeit steht sie mit ihrem neusten Band «Der Unbekannte» in den Top Ten. Die Autorin lebt in Zürich und auf Sansibar, vor der Küste Ostafrikas.