Nachdem es sich bei der in einem Ameisenhaufen entdeckten Leiche nicht um den bekannten Muotathaler Wetterschmöcker Werner Landolt, sondern um dessen Bruder Walter handelte, laufen die Ermittlungen weiter.
Beat Studer, Korporal Kantonspolizei Schwyz
Mit der militanten Tierschutztante Ingrid Meise waren wir auf dem Holzweg. Aber das war Landolts Schuld. Erst bei meinem zweiten Besuch hat er ganz nebenbei erwähnt, dass er diese Mails erhalten habe. Hätte er von Anfang an davon erzählt, wären wir schon früher auf die wahre Täterin gekommen. Er dachte, die Mails hätten nichts zu bedeuten, nur eine kleine Meinungsverschiedenheit, erklärte er. Dabei waren das ganz klar Drohungen. Würde er nicht endlich besseres Wetter vorhersagen, würde sie einschneidende Massnahmen gegen ihn ergreifen, hat sie in einer Nachricht geschrieben. Er müsse sich in Acht nehmen und seine Prognosen anpassen. Natürlich, im Nachhinein ist man immer schlauer. Ich hätte die Mails an Landolts Stelle wohl auch nicht ernst genommen. Ich meine: Clarissa! Clarissa, mit der ich die Schulbank gedrückt habe. Wer würde unserer Tourismusdirektorin so etwas zutrauen?
Ich bin erschrocken, als ich sah, in welchem Tonfall die Mails verfasst waren. Clarissa verfluchte die Wetterschmöcker, als hänge ihre ganze weitere Karriere davon ab, dass diese besseres Wetter vorhersagten und dadurch mehr Touristen in die Region kommen würden. Natürlich, die Tourismuszahlen sind massiv eingebrochen wegen des starken Frankens; sie hatte einen schwierigen Start als Direktorin. Aber sich so in diese Sache reinzusteigern, als gehe es um ihr eigenes Leben … und dann den Landolt umbringen zu wollen, nur weil er nicht nach ihrer Pfeife tanzte und sich nicht selbst verleugnete? Clarissa. Ich kann es immer noch nicht fassen. Aber: Man sieht es einem Täter niemals an. Die stillen Wasser sind die tiefsten, oder wie sagt man nochmal? Natürlich reichten die Mails allein nicht aus, um Clarissa zu überführen. Aber gestern lieferte uns der Geschäftsführer der Landi-Filiale in Schwyz den Beweis. Er übergab uns eine Liste, wer in den letzten Wochen in seinem Landwirtschaftsladen Ameisensäure gekauft hatte. Und siehe da: Er nannte uns den Namen Clarissa Gwerder. Zwar hatte sie bar bezahlt, aber eine der Verkäuferinnen erinnerte sich an sie, als der Filialleiter nachgefragt hatte. Die Tourismusdirektorin war zwei Tage vor dem Mord in die Landi gefahren, hatte sich das Gift beschafft, hatte es vermischt mit Orangensaft in eine Sporttrinkflasche gefüllt und diese Walter Landolt gereicht, als er beim Ameisenhaufen auf die Schulklasse wartete, um seinen Vortrag zu halten. Gwerder wusste, dass er dort sein würde – die Klasse hatte den Wetterschmöcker schliesslich über ihr Büro gebucht. Sie meinte natürlich, der echte Wetterschmöcker Werner Landolt würde dort sein, so wie es vereinbart war. Darum kam es zu der fatalen Verwechslung. Es muss ihr gleich ergangen sein wie mir; die zwei Brüder sind kaum zu unterscheiden. Sie hat Walter die Flasche angeboten, an diesem Tag im rekordheissen Sommer, den keiner der Wetterpropheten hat kommen sehen. Natürlich hat sie alles abgestritten. Doch die Indizien erzählen eine andere Geschichte. Wer hätte das gedacht: Clarissa, eine Mörderin!
ARTIKEL «BOTE DER URSCHWEIZ. ONLINE»
Tourismusdirektorin wegen Mordes verurteilt
Ein Jahr nach dem hinterhältigen Mord an Walter Landolt, der eigentlich seinem Bruder, dem berühmten Wetterschmöcker Werner Landolt gegolten hatte, fällte das Kantonsgericht Schwyz heute sein Urteil: Es hat die Schwyzer Tourismusdirektorin Clarissa Gwerder wegen Mordes zu 13 Jahren Gefängnis verurteilt. Die Angeklagte hat bis zum Schluss jede Schuld bestritten. Doch die Indizien waren erdrückend: Sie hatte Werner Landolt, der eigentlich ihr Opfer hätte werden sollen, in E-Mails bedroht. Sie beklagte sich über die ständig schlechten Wetterprognosen und machte diese für den Einbruch der Tourismuszahlen verantwortlich. Sie verlangte von Landolt, er solle sofort besseres Wetter vorhersagen. Doch der weigerte sich. Damit besiegelte er den Tod seines Bruders. Der sollte nämlich an seiner Stelle bei einem Ameisenhaufen einen Vortrag über die Methode der Wetterschmöcker halten. Die Tourismusdirektorin überreichte ihm vor Ort einen mit Ameisensäure versetzten Orangensaft. Sie realisierte nicht, dass sie es nicht mit dem Wetterschmöcker Werner Landolt, sondern mit dessen Bruder Walter zu tun hatte. Der war sofort tot. Überführt werden konnte Clarissa Gwerder, weil sie beim Kauf der Ameisensäure in der Landi Schwyz von einer Verkäuferin erkannt worden war. Die Tourismusdirektorin wurde direkt nach der Verhandlung in die Frauenstrafanstalt Hindelbank überführt.
Vera Landolt, Witwe des Walter Landolt selig
Natürlich habe ich ein schlechtes Gewissen. 13 Jahre Gefängnis … damit habe ich nicht gerechnet. Die arme Gwerder. Aber was soll ich tun? Hingehen und sagen: Lieber Beat Studer, ihr habt euch geirrt, ihr habt die Falsche verhaftet, die Gwerder war das nicht? Sie hat nie Ameisensäure gekauft? Euer einziger Beweis basiert auf einer Falschaussage, und zwar auf meiner? Und was dann? So leid sie mir tut; es gibt kein Zurück. Ich hatte keinen anderen Ausweg gesehen und musste tun, was ich getan habe. Ich wäre sonst zugrunde gegangen. Wäre nicht er, wäre ich gestorben.
Niemand ist auf die Idee gekommen, dass Walter sehr wohl das richtige Opfer war. Alle gingen davon aus, dass das Gift seinem berühmten Bruder gegolten hatte – was für eine Ironie! Das wäre mir gar nicht in den Sinn gekommen. Ich habe Walter am Morgen seinen Orangensaft in die Trinkflasche gefüllt und mit einer bescheidenen Menge Ameisensäure verdünnt. Es braucht nicht viel davon. Das weiss ich von meinem Vater, der Imker war. Die Flasche mit der Ameisensäure ist gefährlich, das hat er mir früh schon eingebläut. Er hatte panische Angst, dass wir Kinder mal aus Versehen davon trinken würden. Und heute verkaufen wir das wirkungsvolle Gift einfach so in der Landi Schwyz, wo ich drei Tage die Woche an der Kasse sitze. Die Flaschen stehen bei uns im Lager rum. Dass der Walter dann ausgerechnet in einen Ameisenhaufen fallen würde, konnte ich nicht ahnen. Und dass dann jeder meint, der Anschlag habe gar nicht ihm, sondern seinem Bruder gegolten, erst recht nicht. Als der Polizist Studer zu mir kam und mir die Trinkflasche zeigte, hab ich natürlich gesagt, ich hätte die noch nie im Leben gesehen.
Keiner hat danach gefragt, wie es mir in all den Jahren mit Walter ergangen ist. Keinen interessierte, dass er mich schikaniert hatte. Dass er auch zugeschlagen hatte. Immer öfter. Am Schluss unvermittelt, ohne Warnung. Je älter er wurde, desto schlimmer waren seine Wutattacken, desto unberechenbarer seine Aggressivität. Er hatte alles an mir ausgelassen. Am Ende war er nur noch ein alter Sadist. Irgendwann hätte er mich zu Tode geprügelt. Hätte ich gewusst, wie einfach es ist, ich hätte es schon viel früher getan.
Walters Bruder war es, der mir erzählte, dass die Polizei die Gwerder verdächtige. Und dann kam der Landi-Filialleiter zu mir und fragte mich, wer denn in letzter Zeit bei uns Ameisensäure gekauft habe. Es war keine bewusste Antwort, sondern eher ein Reflex. Ich hatte keine Zeit, über die Konsequenzen nachzudenken, die Worte waren schon draussen, bevor das Hirn zu denken begonnen hatte: Die Clarissa Gwerder, sagte ich, sei vor zwei Tagen im Laden gewesen und habe Ameisensäure gekauft. Ob ich das auch vor Gericht bezeugen würde, es sei die Polizei, die das wissen wolle. Ja, habe ich gesagt, obwohl ich wusste, dass das ein Meineid ist. Aber wenn man schon mal gemordet hat, ist man in solchen Dingen nicht mehr kleinlich. Ich ahnte nicht, dass die Gwerder gleich 13 Jahre kriegen würde. Es tut mir leid für sie. Aber ich will auf keinen Fall mit ihr tauschen. Ich habe meine Freiheit durch Walters Tod doch gerade erst gewonnen. Die gebe ich nicht wieder her. Ich will leben, jetzt.
Mord in Switzerland – Band 2
Hg. Petra Ivanov, Mitra Devi
(Appenzeller Verlag 2016).