Was bisher geschah: Auf einer Schulreise entdeckt die 14-jährige Ramona im Ameisenhaufen eine Leiche. Die Polizei identifiziert den Toten als den Muotathaler Wetterschmöcker Werner Landolt. Nur: Dieser lebt. Der Tote muss sein Bruder sein …
Einvernahme Werner Landolt. Geführt von Korporal Beat Studer, Kantonspolizei Schwyz
Es tut mir leid, Werner. Ich weiss, es ist ein blöder Moment, aber ich muss dir ein paar Fragen stellen.»
«Wie konntet ihr nur schreiben, ich sei gestorben!»
«Ich war mir sicher … ich meine, der Ameisenhaufen … und die Ähnlichkeit … ich dachte wirklich, das seist du.»
«Ich wünschte mir, ich wäre es gewesen. Nicht mein kleiner Bruder. Ich bin schuld an seinem Tod.»
«Warum?»
«Weil er für mich eingesprungen ist. Ich hätte den Vortrag beim Ameisenhaufen halten sollen. Aber ich hatte keine Zeit. Wollte keine Zeit haben. Jetzt ist er tot. Es muss diese verfluchte Hitze gewesen sein, die keiner von uns Wetterschmöcker hat kommen sehen.»
«Es war nicht die Hitze. Dein Bruder ist vergiftet worden.»
«Jetzt erzähl nicht schon wieder Mist.»
«Ich bin zuerst von einem Unfall ausgegangen. Aber die Rechtsmedizinerin ist sicher, dass dein Bruder Ameisensäure geschluckt hat. Jemand hat ihm das Gift in einer Trinkflasche gereicht.»
«Ameisensäure? Vergiftet? Walter? Unmöglich!»
«Hatte er Ärger mit jemandem?»
«Nein.»
«Gab es Probleme zu Hause, in eurer
Familie?»
«Nein.»
«Hat er es sich im Geschäft mit jemandem verscherzt?»
«Nein! Was soll die Fragerei? Es gibt niemanden, der meinen Bruder hätte töten wollen.»
«Ist es möglich, dass jemand dich hat töten wollen? Dass jemand ihm diese Trinkflasche gereicht hat, weil er meinte, Walter sei du?»
«Beat, du weisst, dass das absoluter Käse ist. Wer sollte etwas gegen mich haben?»
«Ich habe dich mit deinem Bruder verwechselt. Das könnte auch dem Mörder passiert sein.»
«Du meinst das ernst?»
«Ja.»
«Ich kann mir das nicht vorstellen. Beat, du verrennst dich. Wobei …»
«Wobei was?»
«Es gibt da diese Ingrid Meise.»
«Ingrid Meise?»
«Die vom Tierschutz.»
«Was ist mit der?»
«Die wollte unseren Ameisen-Werbespot verbieten lassen. Das sei Tierquälerei, was ich mit den Ameisen da mache. So ein Unsinn. Aber wenn ich jetzt so darüber nachdenke – ich glaube, sie könnte es gewesen sein. Die Tante ist völlig durchgeknallt.»
Ingrid Meise, Direktorin der Organisation «Tierrecht über Menschenrecht»
Am liebsten hätten die mich gleich hinter Gitter gesteckt. Eine Frechheit. Dieser dicke Polizist stand plötzlich vor meiner Tür, schwenkte einen Zettel, nuschelte was von einem Durchsuchungsbefehl und stürmte mit seiner Mannschaft in meine Wohnung. Nicht einmal die Schuhe haben sie ausgezogen. In jede Schublade steckten sie ihre dreckigen Finger. Keiner hat mir erklärt, was das soll. Doch als der Name Landolt fiel, war mir klar: Das hier ist reine Schikane. Landolt will sich an mir rächen, weil ich mich für das Recht der Tiere eingesetzt habe mit den Mitteln, die in unserem sogenannten Rechtsstaat allen zustehen. Mit einer superprovisorischen Verfügung habe ich diesen geschmacklosen Werbespot verbieten lassen, in dem sich Landolt mitten in einen Ameisenhaufen setzt. Das muss man sich mal vorstellen: mitten in einen Ameisenhaufen! Nicht auszumalen, wie viele Tiere er dabei zerquetscht, und die Massenpanik erst, die er damit auslöst. Purlauterer Stress für die Tierchen, Stress, der tödlich enden kann. Und der Nachahmungseffekt: Jetzt meint doch jedes Kind, es könne sich in einen Ameisenhaufen setzen. Eine Schande, dass ich das Verbot nicht durchgebracht habe. Von wegen Rechtsstaat. Und jetzt also das. Der Landolt muss dahinter stecken. Schickt mir erst eine Horde Rüpel ins Haus, die in meinen Sachen rumwühlen, und lässt mich dann verhaften. Mich. Verhaften. Angeblich wegen der Ameisensäure, die sie in meinem Schuppen gefunden haben. Ein Witz! Die brauche ich zur Behandlung meiner Bienen, um sie vor Varroamilben zu schützen. Das habe ich denen von der Polizei gesagt, aber sie wollten mir nicht glauben. Sagten, eine Tierschützerin wie ich könne sich unmöglich Bienen halten, das gehe doch nicht. Aber natürlich geht das! Die Bienen sind ja nicht meine Gefangenen, ich biete ihnen nur ein Nest an. Ich helfe ihnen! Aber das haben diese Polizisten nicht begreifen wollen. Sie sagten, Landolts Bruder sei umgebracht worden. Was das mit mir zu tun haben soll, ist mir schleierhaft. Sie sagten, die Ameisensäure mache mich verdächtig. Erst als ich denen erzählte, ich sei bis gestern Abend im Ausland gewesen, und ja, das könne ich belegen, und nein, ich hätte mich gestern Morgen nicht im Muotatal aufgehalten – da zuckten sie mit den Schultern und liessen mich gehen. Ich sags ja: reine Schikane. Ich werde eine Beschwerde einreichen. Und zwar an höchster Stelle.
Werner Landolt, Muotathaler Wetterschmöcker
Sie haben sie wieder freigelassen. Haben sie verhaftet – und wieder freigelassen. Dabei haben sie in ihrem Schuppen den Beweis gefunden. Eine Flasche achtzigprozentige Ameisensäure stand im Regal, versteckt hinter allerlei Gerümpel. Woher ich das weiss? In Muotathal spricht sich rasch herum, wenn sich etwas tut. Wenn Streifenwagen bei jemandem vorfahren, die Polizisten das Haus auf den Kopf stellen, und die Frau dann abtransportieren. Doch schon am nächsten Morgen ist meine Frau der Meise im Volg-Laden wieder über den Weg gelaufen. Stand hinter ihr an der Kasse in der Schlange. Sie bewegte sich frei, als wäre nichts passiert. Als ich davon erfuhr, habe ich sofort den Studer angerufen. Ein Alibi, hat er mir gesagt, sie habe ein Alibi. Sie sei vier Tage lang weggewesen, an einer Manifestation in Leipzig für glückliche Schweine. Das muss die doch erfunden haben, das gibts doch gar nicht, so etwas. Aber der Studer hat gesagt, an diesem Alibi sei nicht zu rütteln. Und die Ameisensäure im Regal?, hab ich ihn gefragt. Bienen! Sagt der doch, die Tierschützerin halte sich Bienen! Ich kann das nicht ernst nehmen. Der ist ihr doch auf den Leim gekrochen. Aber er behauptet steif und fest, sie könne es nicht gewesen sein.
Wer dann?, frage ich mich. Es fällt mir einfach niemand ein, der es auf mich abgesehen haben könnte. Ich habe immer rechtschaffen gelebt. Natürlich habe ich hin und wieder auf den Tisch gehauen, wenns nötig war. Daran wird sich keiner gestört haben. So sind wir hier: Sagen gerade heraus, was wir denken. Da poltert schon mal einer, aber danach ist wieder gut. Klar, da war diese Meinungsverschiedenheit mit dem Franz, der mir das Holz zu teuer verkaufen wollte. Doch kurz darauf haben wir wieder miteinander angestossen. Und die Clarissa, die sich beschwert hat, weil meine Wetterprognosen zu düster waren. Wollte, dass ich nur noch schönes Wetter prophezeie, damit mehr Touristen kämen. So weit kommts noch. Ach ja, und der Pfarrer. Mit dem hab ich das Heu auch nicht auf der gleichen Bühne. Scheinheiliger Prediger. Aber sonst war da nichts.
Fortsetzung im nächsten kulturtipp
Buch
Mord in Switzerland – Band 2
Hg. Petra Ivanov, Mitra Devi
(Appenzeller Verlag 2016).