Ramona Berger, 14 Jahre alt, Schülerin
Ich hatte seine Füsse als Erste entdeckt. Ich fand das total lustig. Klar, jetzt ist es mir etwas peinlich, dass ich gelacht habe. Aber sorry, ich meinte, das seien die Beine einer Puppe! Ich dachte, das gehöre zum Programm; jemand habe die Puppenbeine dort reingesteckt, um uns zu erschrecken. Wer rechnet schon damit, dass da eine Leiche mitten im Ameisenhaufen liegt. Also, ich auf jeden Fall nicht. Und dann war plötzlich alles nur noch schrecklich. Der Knecht, unser Lehrer, Herr Knecht meine ich, der uns auf diese Wetterschmöckertour im Muotatal geschleppt hatte, obwohl wir alle lieber einen Ausflug in den Europapark nach Rust gemacht hätten, herrschte mich an: Ich solle aufhören zu lachen. Ich hörte seiner Stimme an, dass etwas nicht gut war. Dann ging er zum Ameisenhaufen und begann, mit den Händen darin herumzuwühlen, mitten in die Ameisen griff er, als ob das nichts wäre. Dann wies er uns an, zurück zum Rastplatz zu gehen, wo wir kurz zuvor gepicknickt hatten. Er müsse die Polizei anrufen. Spätestens da war klar, dass das keine Puppe war. Dass wir eine Leiche gefunden hatten. Also, eigentlich ich, denn ich hatte sie ja zuerst gesehen. Wir gingen dann den Weg zurück. Eine Weile sagte keiner was. Dann fingen die Jungs an, blöde Sprüche zu klopfen. Voll unreif. Wir hingen dann ewig da rum, bis endlich einer von der Polizei kam und uns Fragen stellte. Der war dick und hatte eine Glatze. Was sollten wir schon sagen? Miriam kotzte dann noch. Ehrlich gesagt war mir auch etwas schlecht. Doch ein Trauma hab ich jetzt nicht deswegen. Ist aber schon ein voll schräger Tag gewesen. So haben wir uns unsere Schulreise nicht vorgestellt. Wären wir doch in den Europapark gefahren. Aber auf uns hört man ja nicht.
Beat Studer, Korporal Kantonspolizei Schwyz
Im ersten Moment meinte ich, mich verhört zu haben. Eine Leiche in einem Ameisenhaufen: Das war alles, was mir Beatrice von der Einsatzzentrale durchgab. Mehr wisse sie nicht. Der Mann am Telefon sei aufgeregt gewesen, sie habe gerade noch aus ihm herausbekommen, wo er sich befinde: in Muotathal, am unteren Rand des Chilen-Waldes, oberhalb des Acherlis. Doch dann schob Beatrice noch nach: Er habe etwas über die Wetterschmöcker geschwafelt, sie habe sich keinen Reim darauf machen können. Bei mir aber machte es sofort Klick: Wetterschmöcker – Ameisenhaufen. Da gab es doch diesen Werbespot mit Werner Landolt, dem Wetterschmöcker, der in einem Ameisenhaufen sass. Wetterschmöcker, das sind die Wetterpropheten aus dem Muotatal, die aufgrund der Zeichen der Natur vorhersagen, ob es einen heissen oder einen verregneten Sommer, einen milden oder einen harten Winter gibt. Dank der neuen Tourismusdirektorin Clarissa, mit der ich einst die Schulbank gedrückt habe, sind die Wetterschmöcker seit kurzem eine Touristenattraktion unserer Region. Darum der Werbespot. Man kann die Wetterfrösche jetzt buchen: Man wandert zu ihnen, und sie halten vor Ort Vorträge über ihre Prognosemethoden. Auf jeden Fall klingelte da was bei mir: Ameisenhaufen und Wetterschmöcker. Ich weiss, es klingt seltsam, aber mein erster Gedanke war: Jetzt sind dem Landolt die Ameisen zum Verhängnis geworden. Jetzt haben die ihn totgestochen. Wobei, Ameisen stechen nicht, soviel ich weiss. Aber Sie wissen, was ich meine. Und wie sich zeigen sollte: Ich lag damit gar nicht so weit daneben. Ich fuhr also dort hin, per Zufall war ich schon in Muotathal, beim Mittagessen im Restaurant Alpenrösli. Als ich beim Chilen-Wald ankam, eilte ein Mann auf mich zu. Sein Gesicht hatte alle Farbe verloren, er sah selbst aus wie ein Toter. Kein Wunder. Denn ich muss sagen: Die Leiche war ein grässlicher Anblick. Allein schon diese kleinen schwarzen Viecher, sie waren überall: in den Ohren, den Nasenlöchern, sogar in den Augen. Eklig. Der Tote war übel zugerichtet. Sein Körper war aufgeschwollen. Seine Haut war kaum mehr als solche zu erkennen; sie erinnerte an rohes Fleisch. Die Ameisen haben ganze Arbeit geleistet. Der arme Kerl. Ein solches Schicksal hat keiner verdient. Schon gar nicht Werner Landolt, unser Wetterschmöcker.
Artikel «Bote der Urschweiz. Online», Dienstag, 13.31 Uhr
Wetterschmöcker tot im Ameisenhaufen!
Eine Schweizer Berühmtheit ist nicht mehr: Der legendäre Wetterschmöcker Werner Landolt ist tot! Wurde ihm seine Leidenschaft zum Verhängnis? Wie der «Bote Online» aus gut unterrichteter Quelle erfahren konnte, hat eine Schulklasse, die, wie man sich vorstellen kann, hoch traumatisiert sein muss, die Leiche des Wetterpropheten in einem Ameisenhaufen gefunden. Ausgerechnet in einem Ameisenhaufen! Bekanntlich hat sich Landolt bei seinen Wetterprognosen stets auf das Verhalten der Ameisen gestützt: Haben die Männchen dicke Bäuche, gibt es einen harten Winter. Und jetzt das: Er fand in einem Ameisenhaufen seinen Tod. Was dazu geführt hat, darüber lässt sich nur spekulieren: Hat der 75-Jährige bei seiner Arbeit einen Schwächeanfall erlitten und wurde für die Ameisen zu einem gefundenen Fressen? Wollte er Suizid begehen und hat sich dafür in den Haufen seiner geliebten Tiere gesetzt? Der «Bote Online» hat erste Reaktionen zum Tod des Wetterschmöckers eingeholt: «Für die Tourismusregion Schwyz ist Werners Tod ein schrecklicher Verlust. Gerade haben wir ein neues Angebot lanciert: Der Wetterschmöcker-Wanderweg, auf dem ein echter Wetterschmöcker einen Vortrag hält. Dass ausgerechnet eine solche Wanderung derart dramatisch enden muss, ist schmerzlich», erklärt Clarissa Gwerder, Direktorin von Schwyz Tourismus. Regierungspräsident Sandro Betschart, CVP, lässt über sein Büro mitteilen: «Wir bedauern den Tod von Werner Landolt zutiefst. Mit ihm verliert die ganze Region ein Original, das unersetzlich ist. Welch tragischer Unfall!»
Fortsetzung im nächsten kulturtipp
Christine Brand
Geboren und aufgewachsen im Emmental, arbeitet Christine Brand heute als Redaktorin bei der «NZZ am Sonntag». Zuvor war sie Reporterin beim Schweizer Fernsehen und Journalistin bei der Zeitung «Der Bund». Christine Brand lebt in Zürich. Zuletzt ist von ihr der Krimi «Stiller Hass» erschienen. Der Muotataler Krimi erscheint Ende August im Sammelband «Mord in Switzerland» als eine von 18 Kriminalgeschichten.
Buch
Mord in Switzerland – Band 2
Hg. Petra Ivanov, Mitra Devi
(Appenzeller Verlag 2016).