Was bisher geschah: Auf einer Schulreise entdeckt die 14-jährige Schülerin Ramona Berger eine Leiche mitten im Ameisenhaufen. Die Polizei identifiziert den Toten als den bekannten Muotathaler Wetterschmöcker Werner Landolt.
Irena Jundt, Leiterin des Rechtsmedizinischen Instituts Zürich
Das war kein Unfall. Auch wenn Polizist Studer nur zu gerne den Fall mit dem Stempel «Unfall» versehen und ohne viel Arbeit ad acta legen würde. Doch diesen Gefallen kann ich ihm nicht tun. Denn, was auf den ersten Blick als offensichtlich erscheint, erweist sich nicht selten beim genaueren Hinschauen als falsch. Ganz besonders in meinem Job. Aber nun zur Sache. Das Opfer: männlich, zirka 70 Jahre alt, stattliche Körperpostur. Die Todesursache: multiples Organversagen und reflektorischer Herzstillstand aufgrund eines Kollapses oder Schockzustandes, verursacht durch Ameisensäure. Todeszeitpunkt: wohl keine dreissig Minuten, bevor die Leiche gefunden wurde. Die Körpertemperatur war annähernd im normalen Bereich, ich habe noch keine Totenflecken feststellen können, was unter den gegebenen Umständen aber sowieso schwierig gewesen wäre. Keine Abwehrverletzungen, also keine Hinweise darauf, dass vor seinem Tod ein Kampf stattgefunden hätte. Allerdings kann ich dies nicht ganz ausschliessen: Der Körper des Toten ist äusserlich mit Ameisenbissen übersät, die Haut ist geschwollen. Es ist denkbar, dass geringfügige Verletzungen nicht mehr erkennbar wären. Liegt ein Toter, der an einer Überdosis Ameisensäure starb, in einem Ameisenhaufen, ist es naheliegend, dass er aufgrund der Ameisenbisse gestorben sein könnte. So ist es aber nicht: Werner Landolt hat die Ameisensäure geschluckt. An seinen Lippen haben sich Blasen gebildet, seine Mund- und Rachenschleimhaut ist verätzt, ebenso Speiseröhre und Teile des Magens. Bereits wenige Schlucke verdünnter Ameisensäure können innert Kürze tödlich wirken. Werner Landolt muss einen schmerzhaften Tod gestorben sein. Die Fundsituation der Leiche lässt beide Schlüsse zu: Entweder wurde er kurz nach seinem Ableben in den Ameisenhaufen gelegt – oder der Zufall wollte es, dass er auf diesen gestürzt ist, als er um sein Leben rang. Neben dem Toten fand sich eine Sporttrinkflasche mit der Aufschrift Isostar. Der Befund aus dem Labor steht noch aus, aber es ist davon auszugehen, dass sich darin Spuren von Ameisensäure finden werden. Alles andere wäre eine Überraschung. Also: Wir haben es hier mit einem Mord zu tun, mit einem sehr perfiden noch dazu. Mehr kann ich nicht beitragen, selbst wenn Polizist Studer das Gefühl hat, ich müsste ihm auch gleich noch die Lösung des Falls präsentieren. Da muss er sich schon selbst etwas einfallen lassen. Wenigstens konnten wir den Toten rasch identifizieren. Im Kanton Schwyz scheint noch immer jeder jeden zu kennen; Studer jedenfalls kannte das Opfer. Bei dem Toten handelt es sich um Werner Landolt, einen Muotathaler Wetterschmöcker.
Werner Landolt, Muotathaler Wetterschmöcker
Ich? Tot? Beim ersten Anruf habe ich laut losgelacht. Beim zweiten habe ich geflucht. Beim dritten wusste ich, dass mein Bruder tot sein musste. Hans Kobel war der Erste, der mich erreicht hatte. Er erschrak fürchterlich, als er meine Stimme hörte. «Du bist doch tot!», rief er. Und dann: «Mein Gott, du lebst!» Ich fragte mich, ob er betrunken sei. Er erklärte, im Dorf mache die Nachricht die Runde, dass man mich tot aufgefunden habe. Ich habe mich dann kurz in den Arm gekniffen und ihm versichert, ich sei lebendig wie eh und je. Kaum hatte ich aufgehängt, rief meine Schwägerin aus Basel an. So schnell geht das heute. Sie habe im Internet von meinem Tod gelesen, sie wolle ihrer Schwester kondolieren. Da fand ich es nicht mehr lustig. Schreiben die mich einfach tot! Doch als sie sagte, meine Leiche sei in einem Ameisenhaufen gefunden worden, begann der Boden zu schwanken, und das Zimmer wurde plötzlich furchtbar eng. Walter. Mein Bruder. Er war für mich eingesprungen, diesen dämlichen Vortrag über die Ameisen und ihre Wetterfühligkeit zu halten. Ihm musste dabei etwas zugestossen sein. Nicht meine, seine Leiche haben sie gefunden! Wär ich doch bloss selbst hingegangen. Ich fürchte, ich habe ihn in den Tod geschickt.
Beat Studer, Korporal Kantonspolizei Schwyz
Heilandsack. Mir fiel beinahe das Handy aus der Hand, als ich plötzlich Werner Landolt am Draht hatte. Hätte der nicht dermassen wütend losgeflucht, ich hätte gedacht, jemand erlaube sich einen Scherz. Doch wer den Landolt einmal bei einem schlechten Spiel im Jass hat fluchen hören, der erkennt ihn aus tausend Menschen wieder. Der Mann, der am anderen Ende in die Leitung brüllte, war unverkennbar unser Toter. Nur dass er überaus lebendig wirkte. Erst als er sich ein wenig beruhigt hatte, verstand ich, was passiert war. Als Erstes kondolierte ich ihm zum Verlust seines Bruders, versprach ihm, dass wir das sofort korrigieren würden, und kündigte an, bei ihm vorbeizukommen. Dann informierte ich unseren Pressesprecher, dass wir einen Scheiss geschrieben hätten, der Tote sei ein anderer.
Danach fuhr ich zum Haus der Landolts eingangs des Dorfes, ein dunkles Schindelhaus, mit Fenstern, klein wie Schiessscharten. Die Situation erschien mir total absurd: Ich besuchte gerade den Mann, den ich vor ein paar Stunden für tot erklärt hatte. Als Werner Landolt öffnete, sah er zwar lebendig, aber gebrochen aus. Wortlos bat er mich herein. Mir war sofort klar, dass dies ein schwieriges Gespräch werden würde. Aber wer, wenn nicht er, konnte mir erste Informationen liefern? Und das war es, was ich jetzt brauchte: Antworten. Ich hatte nämlich einen Mord aufzuklären. Wäre es doch bloss ein Unfall gewesen!
Medienmitteilung der Kantonspolizei Schwyz. Dienstag, 15.37 Uhr
An die Redaktionen. Betreff: Korrigendum
Die Kantonspolizei Schwyz korrigiert die Meldung von heute Dienstag, 13.11 Uhr: Bei dem Toten, der in Muotathal gefunden wurde, handelt es sich nicht wie irrtümlicherweise vermeldet um den Muotathaler Wetterschmöcker Werner Landolt, sondern um seinen Bruder Walter Landolt. Die Brüder weisen grosse Ähnlichkeiten auf. Über die genauen Todesumstände kann die Kantonspolizei derzeit keine Angaben machen. Sie sind Gegenstand der laufenden Ermittlungen.
Fortsetzung im nächsten kulturtipp
Christine Brand
Geboren und aufgewachsen im Emmental, arbeitet Christine Brand heute als Redaktorin bei der «NZZ am Sonntag». Zuvor war sie Reporterin beim Schweizer Fernsehen und Journalistin bei der Zeitung «Der Bund». Christine Brand lebt in Zürich. Zuletzt ist von ihr der Krimi «Stiller Hass» erschienen. Der Muotataler Krimi erscheint Ende August im Sammelband «Mord in Switzerland» als eine von 18 Kriminalgeschichten.
Buch
Mord in Switzerland – Band 2
Hg. Petra Ivanov, Mitra Devi
(Appenzeller Verlag 2016).