In einer jasminduftenden Mainacht finde ich auf dem Mäuerchen vor der verlotterten armenischen Kirche unweit der Via Veneto in Rom einen Stapel Schulbücher und Hefte eines 16-jährigen syrischen Mädchens, das ich Jasmin nennen will, aus Gründen der Diskretion, aber vor allem, weil auf einem in durchsichtige Plastikfolie gebundenen, fotokopierte Seiten enthaltenden Heft, offenbar eine Abschlussarbeit, genau der Jasmin zu sehen ist, der um diese Zeit in Rom blüht. Ein falscher Jasmin, um exakt zu sein, Trachelospermum jasminoides, wegen seines Dufts und der Form seiner kleinen weissen Blüten im Volksmund eben Jasmin genannt, gelsomino auf Italienisch, so wie es auch auf dem Titelblatt von Jasmins Arbeit steht: I gelsomini di Aleppo.
Der handschriftliche Text beginnt so: «Ich bin am 5. Mai 2002 in Aleppo geboren. Ich erinnere mich an die Stadt Aleppo voller grüner Bäume, kleiner Bäume mit vielen roten, gelben und weissen Blüten, die Hibiscus heissen. Ich weiss, dass es auch in Italien viele dieser kleinen Bäume gibt und auch den Jasmin, der die Luft so stark parfümiert, er findet sich in ganz Syrien und in Aleppo, auf allen Strassen gibt es viele Jasminbüsche.» Eigentlich eine Kletterpflanze, dieser Jasmin, um wieder exakt zu sein. Ich kenne in Rom ein Haus, zu Fuss etwa eine Viertelstunde von der armenischen Kirche entfernt, dessen Fassade im Mai von einem Jasminblütenteppich fast völlig bedeckt ist, aber man kann ihn natürlich auch zu Büschen zurechtstutzen oder an Zäunen entlangführen. Jasmin, verzeih die Pedanterie, sie ist ein Atemholen vor deinen nächsten zwei Sätzen: «In fast allen Häusern von Aleppo gibt es Balkone mit farbigen Blumen. Das vor dem Krieg von 2011.» Und weiter hinten in einem Aufsatz über die Geschichte Syriens: «Aleppo ist fast ganz von Bomben zerstört, und so gibt es alle die schönen Dinge, Paläste, Monumente, Plätze, Strassen und Bäume nicht mehr.»
Und du, Jasmin, wo bist du?
Der Fund in der Mainacht vor der armenischen Kirche hat viele Fragen aufgeworfen: Wie kam dieser Stapel von Schulmaterial hierher? Sollte ich die Poizei rufen, war es eine Entführung, hat dich jemand in ein Auto gezerrt, dabei ist deine Tasche auf den Boden gefallen, Hefte und Bücher auf der Strasse verstreut, jemand liest sie zusammen und stapelt sie aufs Mäuerchen? Oder ist es ein Signal, ein Hilferuf? Oder hast du nur genug von der Schule, weg mit dem Zeug, wer will, kann sich bedienen? Aber so, mit deinem vollen Namen auf dem Titelblatt, ich weiss nicht. Und du bist erst 16, die Geste kann doch noch nicht der endgültige Abschied von der Schulzeit sein. Es scheint auch nicht irgendeine Behelfsschule gewesen zu sein, da wurde Wert auf sorgfältiges Arbeiten gelegt, dieses schön gebundene Heft, und man sieht, wie du dir Mühe gibst, Italienischfehler zu vermeiden, schreibst auch sauber leserlich und hast die Texte mit einer Menge Fotos und Landkarten illustriert. Wohl alles aus dem Netz heruntergeladen, über einigen der Bilder von den noch intakten Palästen, Monumenten und Plätzen liegt ein Raster mit dem allzu sprechenden Logo dreamstime. Ein Text ist auf Arabisch geschrieben, auch er in sorgfältiger Handschrift. War es eine zweisprachige Schule? Oder hat man dir erlaubt, in deiner Sprache zu schreiben, weil es ein Brief an eine syrische Freundin ist? Auf der Seite daneben scheint, wenn nicht die Übersetzung, dafür ist der Text relativ zum Brief zu kurz, so doch eine Art Zusammenfassung oder Erklärung zu stehen: «Ich sehe Personen aus meinem Leben verschwinden, und ich möchte nicht, dass auch du mit ihnen verschwindest … als ich dich kennenlernte, bist du die Schwester geworden, die ich nie hatte. Ich übertreibe nicht, wenn ich diese Worte sage, du fehlst mir so. Deine eingewanderte Freundin, J.A.A.N.»
Das nun ist kompliziert. Wenn die fehlende Freundin die Empfängerin des arabischen Briefes ist, und das muss sie sein, an zwei Stellen ist ein Herzchen zwischen die schönen arabischen Buchstaben gezeichnet, warum nennt sich Jasmin dann die eingewanderte Freundin, la tua amica immigrata? Das klingt doch, als lebte die andere auch in Italien. Warum würden sie dann einander fehlen? Weil sie nicht in derselben Stadt wohnen? Das beklagt man aber nicht mit so schweren Worten vom Verschwinden. Nein, ich kann nur annehmen, Jasmin, Liebe, dass du hier etwas verwechselst, immigrata und emigrata, aus der Perspektive deiner Freundin, in Syrien verblieben, bist du eine emigrata, aber das Wort kennst du vielleicht gar nicht, hast hingegen das Wort immigrata in Italien immer wieder und immer auf eine Art gehört, als bezeichne es nicht nur einen Status, sondern eine bestimmte Art von Mensch: jemanden, der nicht mehr dort ist, wo er sein sollte und möchte. La tua amica immigrata, deine heimatlos gewordene Freundin.
Deine verschwundene Freundin?
Jasmin, ich muss die Frage wiederholen: Wo bist du? Auf Facebook oder sonst einem Social Network würde ich dich vielleicht finden, aber nicht einmal deinetwegen steige ich in so etwas ein. Würde dich da eigentlich auch nicht finden wollen, du stehst für mich zwischen analogem Hibiscus und Jasmin und nicht in der realitätsabgewandten Sphäre. Aber glaube nicht, dass ich nicht ernsthaft besorgt bin, du könntest auf der akut heillosen Seite dieser heillosen Welt gelandet sein.
In deiner Arbeit zitierst du ein Gedicht von Ungaretti, wohl weil es zur Aufgabe gehörte, auch etwas von der Kultur des Gastlands zu integrieren: «Si sta come / d’autunno / sugli alberi / le foglie», «Man fühlt sich / wie im Herbst / an den Bäumen / die Blätter». Aber auch wenn der italienische Dichter nur Pflichtübung ist, das Zitat hast du nicht zufällig gewählt. Und schreibst auch zur Erklärung: «… die ganze Menschheit lebt so, auf der Kippe wie die Blätter im Herbst.» Ja.
Christina Viragh
Christina Virahg wurde 1953 in Budapest geboren und emigrierte 1960 nach Luzern. Sie hat Philosophie und Literatur studiert und ist seit den 80er-Jahren als Schriftstellerin und Übersetzerin tätig. Kürzlich ist ihr Roman «Eine dieser Nächte» im Dörlemann Verlag erschienen. Die Autorin lebt in Rom.