Anfangs ist nur ein Flüstern zu hören, ein Raunen im Chor. Die Dirigentin winkt die Frauentruppe auf der kargen Bühne näher, aus dem Gemurmel formen sich Wörter: ein polnisches Gebet. Die barfüssigen Frauen werden immer lauter, stampfen im Takt zum Sprechgesang. Ihr Gebet wird eindringlicher, rhythmischer, intensiver. «Amen!», schreien sie ein letztes Mal, dann ist schlagartig Ruhe, die Frauen erstarren in ihrer Bewegung, schauen mit festem Blick direkt ins Publikum.
Die Warschauer Regisseurin, Sängerin und Librettistin Marta Górnicka ist an den Basler Dokumentartagen mit ihrer preisgekrönten deutsch untertitelten Theaterproduktion «Magnificat» zu Gast. Der von Marta Górnicka dirigierte Chor besteht aus Laienschauspielerinnen zwischen 23 und 75 Jahren – Power-Frauen mit ausdrucksstarken Gesichtern. Sie erheben ihre Stimme: Zischelnd und schreiend, murmelnd und fauchend begehren sie auf.
Im polnischen Sprechgesang mischen sich biografische Fragmente mit Zitaten aus Zeitungen oder Texten von Euripides bis Elfriede Jelinek.
Gemeinsam und allein
Religion und Kirche sind Themen, die Rolle der Frau zwischen Hure und Heiliger oder ihre so genannte biologische Bestimmung, wie etwa die Mutterschaft. Ihre Texte singen und sprechen die 25 Darstellerinnen im Chor, dann schert wieder eine von ihnen aus, zeigt ihre persönliche Performance, bis sie sich wieder im gemeinsamen Gesang finden. Im Wechsel zwischen dem Kollektiv und individuellen Sequenzen kreisen sie um das Thema Frausein – nicht nur in der heutigen polnischen Gesellschaft.
Die Schweizer Erstaufführung von Górnickas Performance passe bestens ins Programm, sagt Boris Nikitin, künstlerischer Leiter der Basler Dokumentartage. «‹Die Produktion von Öffentlichkeit› steht als Thema im Zentrum des diesjährigen Festivals. Der Chor repräsentiert im klassischen Theater eine abstrakte, allgemeine Öffentlichkeit. In ‹Magnificat› ist es jedoch eine Gruppe von Frauen, die eine spezifische feministische Position einnehmen.»
Zum Festivalauftakt bietet der Frauenchor, der bereits 2012 am Zürcher Theaterspektakel mit der Produktion «Hier spricht der Chor» aufgefallen ist, eine eindrückliche Performance: präzise aufeinander abgestimmt, kraftvoll im körperlichen und stimmlichen Ausdruck.
Die Realität auf der Bühne
Die zweiten Basler Dokumentartage richten den Blick mit Bühnen- und Tanzperformances, Filmen, Ausstellungen, Workshops und Podiumsdiskussionen auf die Themen Öffentlichkeit und Wirklichkeit. Die Künstler präsentieren dem Publikum einen Wirklichkeitsausschnitt, reflektieren und deuten ihn – oft nach persönlichen Erfahrungen. Anhand individueller Wahrnehmung bilden die Produktionen aus allen Kunstsparten politische und gesellschaftliche Zustände ab – und sie zeigen, wie das Leben so spielt.
It’s The Real Thing – Basler Dokumentartage 15
Mi, 15.4.–So, 19.4.
www.itstherealthing.ch
Vier Fragen an Festivalleiter Boris Nikitin
«Die Sehnsucht nach Authentizität macht den Reiz aus»
kulturtipp: Inwiefern bilden die Produktionen an den Basler Dokumentartagen Wirklichkeit ab?
Boris Nikitin: Unterschiedlich. Das «Museum of Broken Relationships» zeigt in Form einer Ausstellung reale Objekte aus zerbrochenen Beziehungen. Begleitet werden diese von Texten, die den Hintergrund der Beziehung und der Trennung beschreiben. Diese wurden von den Objektspendern selbst verfasst. Allein die Ausstellung bildet also auf mehreren Ebenen Wirklichkeit ab, macht sie selbst zum Gegenstand der Kunst. Ein anderes Beispiel ist der britische Künstler «The vacuum cleaner». Er hat eine über zehnjährige Biografie als Psychiatriepatient, die er in der Performance «Mental» anhand seiner Krankenakten erzählt. Seine Geschichte ist real, zugleich kann man sagen, dass sein Akt, diese mit einem Publikum zu teilen, eine neue Wirklichkeit ermöglicht.
Welches sind die vorherrschenden Themen bei den diesjährigen Produktionen? Was bewegt unsere Gesellschaft?
Es geht sehr viel um Partizipation. Um das Vorkommen in der Gesellschaft, mit den individuellen Besonderheiten und Verletzungen. In fast allen Produktionen stellen Menschen ihre individuelle Wahrnehmung dem Publikum zur Verfügung. Sie präsentieren sie, machen aber auch eine Identifikation möglich. Das interessiert mich sehr: Mit dem persönlichen Erzählen ermöglicht man Solidaritäten. Hier wird deutlich, dass sich Wirklichkeit nicht nur darstellen, sondern auch schaffen lässt.
Was macht den Reiz des Dokumentartheaters aus?
Die Neugier an der Biografie anderer Leute, die Sehnsucht nach Authentizität. Auch Voyeurismus spielt eine Rolle. Vor allem hat es wohl damit zu tun, dass dokumentarische Theater-, Film- und Kunstprojekte sehr konkret und direkt sind. Man legt die Karten auf den Tisch. Das ist die Stärke, kann aber auch eine Schwäche sein. Etwa dann, wenn es zu sehr ins Banale und Profane rutscht.
«It’s The Real Thing» heisst das Festival. In vielen Produktionen verschwimmen die Grenzen zwischen Fakt und Fiktion. Inwiefern ist es tatsächlich «the real thing»?
Ich hatte den Titel des Festivals einer alten Coca-Cola-Kampagne entliehen. Für mich ist das eine schöne Metapher für die Wirklichkeit: ein Getränk, das äusserst real, überall präsent und zugleich das künstlichste, konstruierteste Getränk der Welt ist.
Marta Górnicka: Magnificat
Mi, 15.4., 20.30 Kaserne Basel, mit anschliessendem Künstlergespräch
www.kaserne-basel.ch