Im März 2012 geriet der westafrikanische Binnenstaat Mali in die Schlagzeilen. Überraschend stürzte das Militär die Regierung in der Hauptstadt Bamako. Bald geriet der Norden unter die Kontrolle von Tuareg-Rebellen und Islamisten, bevor Letztere die Alleinherrschaft übernahmen. In den malischen Städten Gao, Kidal und Timbuktu wurde das islamische Recht der Scharia ausgerufen. Die Besetzer begannen, die jahrhundertealten Mausoleen der Stadt systematisch zu zerstören.
Verwirrung um 300 000 Manuskripte
«Timbuktu droht der Verlust seiner Seele.» Oder: «Timbuktu wird das scharfe Messer eines Attentäters an die Kehle gesetzt.» Hilferufe wie diese – abgesetzt von Kulturschaffenden der Wüstenstadt – drangen an die Weltöffentlichkeit.
Als Ende Januar 2013 Meldungen kursierten, die Islamisten hätten in Timbuktu eine Bibliothek mit alten Manuskripten in Brand gesetzt, war das Entsetzen gross. Man fürchtete um Hunderttausende arabischer Handschriften: Aufzeichnungen, welche die westafrikanische Geschichte der vergangenen 900 Jahre dokumentierten. Darunter befinden sich religiöse Verse, Musik oder Poesie, aber auch erste medizinische Erkenntnisse oder Notizen der frühen Mathematik.
Als sich Tage später herausstellte, dass die Manuskripte nicht den Flammen zum Opfer gefallen, sondern vom Bibliothekar Abdel Kader Haidara und zahlreichen Helfern Monate zuvor aus der Stadt geschmuggelt worden waren, ging ein Aufatmen um die Welt. 300 000 Schriften, so schätzt man heute, sind damals in blechernen Kisten durch die Wüste nach Bamako gelangt und dort an geheimen Orten gelagert worden.
Der britische Autor Charlie English hatte diese unglaublichen Geschehnisse im Jahr 2013 bei der Tageszeitung «Guardian» miterlebt. Als Leiter des Auslandsressorts war er «hautnah» dabei, als sich die schlechten und guten Nachrichten zu diesem Thema überschlugen. Emotional betroffen fasste er damals den Beschluss, ein Buch über diese unglaubliche Aktion der «Bücherschmuggler von Timbuktu» zu schreiben, und kündigte seine Stelle.
English war als junger Mann in den 1980ern selbst mit einer Reise nach Timbuktu gescheitert. Deshalb war für ihn bald klar, dass sein Buchprojekt thematisch weit über die Rettung der Manuskripte hinausreichen würde.
Faktenreicher Blick auf die Entstehung der Stadt
In zwei Erzählsträngen wollte der Autor den Bogen schlagen vom Hier und Jetzt zu den jahrhundertelangen Bemühungen des Westens, die Stadt in der Wüste zu finden, einzunehmen und ihre Geheimnisse zu lüften. Dabei stützte sich English auf den Reisejournalisten Bruce Chatwin (1940–1989), der in seinen Reportagen festgehalten hatte, dass es zwei Timbuktus gebe: das eine ein realer Ort – eine «träge Karawanenstadt», die um 1100 am Berührungspunkt der grössten Trockenwüste der Erde und des längsten Flusses Afrikas ihre Anfänge hatte, das andere eine «sagenhafte Stadt aus dem Reich der Legenden – das Timbuktu der Phantasie».
Meisterhaft und lebendig erzählt English, wie die kostbaren Manuskripte auf abenteuerlichen Wegen durch die Wüste und auf Schiffen nach Bamako gelangten. Gleichzeitig flicht er Geschichte um Geschichte über die Vergangenheit Timbuktus ein. Er blickt Jahrhunderte zurück und schildert in zahlreichen Legenden die Entstehung dieser Siedlung am Niger. Er berichtet, wie wagemutige Geografen im 18. und 19. Jahrhundert in gefährlicher Mission den «grossen, weissen Fleck auf der Landkarte Afrikas» zu erforschen versuchten und oftmals scheiterten.
In seinem Nachwort bezeichnet Charlie English sein Buch als Kompendium von Geschichten, die er zusammentrug. «Es geht dabei nicht allein um Tatsachen», schreibt der britische Autor, «denn über Timbuktu konnte man alles Mögliche erzählen, ohne dass es korrigiert worden wäre.» Dieser Umstand habe die Fantasie beflügelt und dazu geführt, dass oft übertriebene Berichte vom Reichtum der Stadt durch die Wüste bis nach Europa gelangten. Hinzu kam der klangvolle Name Timbuktu, «der wie ein Zauberwort ins Ohr geht und wundersame Bilder im Kopf hervorruft».
Harte Recherchen über die Bücherschmuggler
Es scheint, als ob der Journalist English diesem Zauber nicht erliegen wollte. Im allerletzten Kapitel seines grossartigen Geschichtsbuchs bringt Charlie English unvermittelt kritische Expertenstimmen ins Spiel, die am Wahrheitsgehalt der «Bücherschmuggler-Geschichte» zweifeln.
Was wie eine billige Verschwörungstheorie wirkt, war für English Anlass zu eindringlichen Recherchen. Sie verliefen allesamt ergebnislos und stiften beim Leser nach einer faktenreichen Lektüre mehr Verwirrung als gewinnbringende Erkenntnis. Schade, denn die Geschichte der Bücherschmuggler verliert sich so nach 432 Seiten fast im Sand.
Sachbuch
Charlie English
Die Bücherschmuggler von Timbuktu
432 Seiten
(Hoffmann und Campe 2018)