Sie froren, und deshalb sassen sie eng nebeneinander. Am Himmel stand der Mond, wenn sie auch nicht wussten, dass es der Mond war. Sie hatten versucht, ihn zu erreichen, früher, als Abenteuer sie noch gelockt hatten, und bisher hatte es keine geschafft. Jetzt waren sie zu alt für einen neuen Versuch.
Weil sonst nichts mehr zu tun war, redeten sie miteinander, wenn auch ohne die Hoffnung, Unerwartetes zu hören. Was die eine erlebt hatte, hatte auch die andere erfahren. Neues würde nicht mehr nachkommen, das wussten sie, und das Alte hatten sie schon beinahe wieder vergessen. Es ging bald zu Ende mit ihnen, und das fanden sie auch richtig so.
Sie waren alle schon dreiundzwanzig.
«Obwohl …», sagte ein dünnes Stimmchen.
«Ja?», sagten die andern.
«Ich habe einmal von einer gehört, die ist fünfundzwanzig geworden.»
Die einzige Antwort war ein ungläubiges Summen. An Märchen glaubten sie schon lang nicht mehr. Fünfundzwanzig – das war ein Alter, das man sich nicht einmal vorstellen konnte.
«So uralt möchte ich nicht werden», sagte eine andere Stimme, und alle nickten mit ihren Köpfen, soweit sie das bei ihrer zunehmenden Unbeweglichkeit noch schafften. Mit fünfundzwanzig wäre man ja total vergreist, für nichts mehr zu gebrauchen, und sämtliche Beine täten einem weh. Von anderen Körperteilen ganz zu schweigen.
«Und die Männer interessieren sich auch nicht mehr für einen», fiepste eine Dritte, was allgemeines Gekicher auslöste. Die eine oder andere wäre vielleicht sogar errötet, wenn sie gewusst hätte, wie das geht. Aber im Grunde fanden natürlich alle, dass dieses Desinteresse das Schlimmste am Älterwerden war, das Allerschlimmste.
Eine von ihnen sprach es sogar aus: «Da kann man sich doch gleich auf einen Ast setzen und darauf warten, dass der da oben kommt und einen holt.» – «Genau», sagte eine andere. «Gefressen werden ist wenigstens irgendwie heroisch.» Ja, meinten alle, «heroisch» war das richtige Wort. Obwohl sie es sich nicht wirklich vorstellen konnten.
«Nicht dass es bei uns schon so weit wäre», meinte eine, die im Leben nie etwas Schlimmes erlebt hatte und deshalb Optimistin war. «Mit dreiundzwanzig hat man vielleicht nicht mehr die beste Zeit seines Lebens vor sich, aber doch die interessanteste.»
Genau so war es, fanden die andern und trösteten sich mit ihrer Zustimmung selber. Was man rein körperlich nicht mehr schaffte, liess sich allemal durch Erfahrung ausgleichen. «Mehr als ausgleichen», meinte eine von ihnen. «Die jungen Dinger müssen gar nicht meinen, sie hätten uns etwas voraus.»
Oh ja, Erfahrungen hatten sie gemacht, und das nicht zu knapp. Je mehr sie ins Erzählen kamen, desto jünger fühlten sie sich. Abenteuer hatten sie erlebt, jede Menge Abenteuer. Reisen hatten sie unternommen, in ferne Gefilde, von denen diese flatterhaften Anfängerinnen noch nicht einmal träumen konnten. Und Liebschaften hatten sie gehabt, ah, Liebschaften …
Die Welt war einmal hell und warm gewesen, erzählten sie sich gegenseitig, sie hatten Träume geträumt, und die hatten sie sich auch erfüllt, denn auch die Männer waren jung gewesen, damals, hatten die Sonne gespürt und den Wind, waren unternehmungslustig gewesen und anziehend und unwiderstehlich.
Wenn sie an die Zeiten im Licht nur dachten, wurde ihnen überall warm. Soweit ihr Körperbau ihnen das gestattete. Es war nur eine erinnerte Wärme, natürlich, aber besser als nichts war sie allemal.
«Ach, es waren schöne Zeiten, damals», sagten sie, ein sehnsüchtiger Chor. Es waren wunderschöne Zeiten gewesen, und sie hatten sie genossen.
Soweit sie sich erinnern konnten, hatten sie sie genossen.
Und auch für die Gemeinschaft hatten sie etwas getan, jawohl. Eine neue Generation in die Welt gesetzt, jede einzelne von ihnen. Waren fruchtbar gewesen und hatten sich vermehrt, so wie das im Schöpfungsplan vorgesehen war. Hatten ihre Pflicht getan. Da konnte man es jetzt schon etwas ruhiger nehmen. Auch wenn man noch nicht alt war. Nicht richtig alt. Mit vierundzwanzig konnte man dann vielleicht davon reden, aber so weit war es noch lange nicht. Noch sehr lange.
Aber vierundzwanzig war dann vielleicht auch genug.
Der Mond schien Kälte zu verbreiten, so wie die Sonne früher Wärme verbreitet hatte. Sie rückten noch näher zusammen und fröstelten alle ein bisschen. Wenn man ein langes, tätiges Leben gelebt hat, darf man frösteln.
Dann machten sie ein Schläfchen, nur ein ganz kurzes, nicht der Rede wert, und als
sie wieder aufwachten, waren ein paar von ihnen nicht mehr da. Einfach verschwunden. «Das war sicher der da oben», flüsterten sie sich zu und rieben abergläubisch die Beine aneinander.
Es war tatsächlich der da oben gewesen. Er war gern in der Nacht unterwegs, denn dann zappelten die Damen nicht so heftig, wenn er sie sich holte. Er war auch nicht mehr der Jüngste.
Dann wurde die erste von ihnen vierundzwanzig, und die anderen summten ihr ein Abschiedslied, das sie nicht hatten lernen müssen und dessen Melodie sie doch alle kannten. Es war ein Lied ohne Worte, aber wenn es Worte gehabt hätte, dann hätten die geheissen: «Leb wohl, leb wohl, leb wohl.»
Dann waren sie alle vierundzwanzig, und weil das die Zeit ist, wo man stirbt, starben sie dann auch. Der da oben kam mit dem Einsammeln gar nicht nach, verschluckte sich beinahe in seiner Gier und musste sich dann auf einen Ast setzen und sich mit dem Schnabel die Federn putzen.
«Die Natur hat das schon gut eingerichtet», dachte er beim Verdauen, «dass diese Eintagsfliegen wirklich nur vierundzwanzig Stunden leben.»
«Mit fünfundzwanzig», dachte er, «wären sie bestimmt viel zu zäh.»
Zur Person
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, ist seit 1980 freier Schriftsteller. International bekannt wurde er 2006 mit seinem Roman «Melnitz». Für seine Bücher gewann er zahlreiche Preise, sein Werk erscheint in 16 Sprachen.
Neben Romanen schreibt er Drehbücher, Liedertexte für verschiedene Komponisten, Theaterstücke und Musicals. Für SRF, ARD, ZDF oder ORF hat er TV-Shows, Serien («Fascht e Familie») und Hörspiele geschrieben.
Zuletzt ist sein Roman «Täuschend echt» (2024) erschienen. Charles Lewinsky lebt im Sommer im französischen Vereux und im Winter in Zürich.