Niemand kommt mehr in die Bibliothek. Ich kann es mir nicht erklären. Natürlich, eine JVA wird nicht von lauter dickbebrillten Bibliophilen bevölkert, aber zu den Ausleihzeiten war immer ein rechter Ansturm, das weiss ich doch. Wenn man sich angemeldet hatte – ich habe das als gewöhnlicher Benutzer oft erlebt – , musste man draussen anstehen, bis zwischen den Büchern wieder Platz war. Die beiden zusammengelegten Viermannzellen machen noch keinen Lesesaal. Darum hat man für die Wartenden ja auch eigens eine Bank aufgestellt – ich nehme an, auch das war Ihre Initiative. Sie ist zu einem guten Ort für ungestörte Gespräche geworden. Die jeweils Wachhabenden trauen Leuten, die sich für Bücher interessieren, wohl nichts Böses zu. Manche Häftlinge der Stufen A und B sind überhaupt nur wegen dieser Unterhaltungen gekommen und haben die Bücher, die sie sich dann holten, nie aufgeschlagen. Aber warum auch immer: Sie sind wenigstens gekommen.
Und jetzt – niemand.
Es macht mir Angst.
Eigentlich sind Häftlinge doch ideale Kunden für eine Bibliothek. Captive audience – was für ein passender Ausdruck. Man wird vom Gesetz ja nicht nur mit Freiheitsentzug bestraft, sondern vor allem mit Langeweile. Kämpft sich jeden Tag durch die Wüste der leeren Stunden, das ausgetrocknete Hirn nach geistiger Erfrischung lechzend. Nicht einmal in den exakt limitierten Fernsehzeiten ist ein bisschen Geistesnektar zu holen, denn das Programm wird demokratisch bestimmt, also durch die Mehrheit der Idioten. Deutschland sucht den Superstar rauf und runter. Bauer sucht Frau. Da bleiben nur Bücher.
Die ganze Anstalt scheint sich von einem Tag auf den andern das Lesen abgewöhnt zu haben.
Ich habe noch nicht alle Bände durchsortiert, aber doch genügend, um jedem Interessenten ein passendes Angebot machen zu können. Leichte Lektüre, schwere Lektüre. Klassiker. Bildbände für die Analphabeten. Und keiner kommt. Als ob plötzlich alle Häftlinge davon überzeugt wären, vom Lesen bekomme man Aids.
Rätselhaft.
Ich befinde mich in Rätselhaft.
Es ist mir nicht ums Lachen zumute.
Auch mein Zellengenosse Ambros verhält sich seltsam. Seit dem Tag, an dem man uns zusammensperrte, hat er mich pausenlos zugelabert – uninteressantes Zeug, aber es war doch immerhin so etwas wie ein Gespräch. Jetzt ist er plötzlich schweigsam geworden. Manchmal vergisst er sich und schwatzt drauflos, aber schon nach einem Satz oder zweien verstummt er wieder, manchmal mitten im Wort. Ich habe versucht, ihn auszufragen, was für einen geübten Manipulator wie mich kein Problem hätte sein dürfen. Ambros ist nicht gerade von nobelpreisverdächtiger Intelligenz. Ich habe ihm also von einem Band mit Kreuzworträtseln erzählt, den ich beim Aufräumen gefunden habe, und ihn gefragt, ob ich ihn ihm mitbringen solle. Den Band gibt es tatsächlich, wenn die Rätsel auch weit über seinem Niveau sind. Als ob man einem Anfänger, der gerade mal drei Akkorde auf der Gitarre beherrscht, die Noten für ein Jimi Hendrix-Solo versprechen würde. Jemand, der in jeder weggeworfenen Zeitung gierig nach noch nicht ausgefüllten Kreuzworträtseln fahndet, hätte auf den Köder anbeissen müssen. Aber Ambros, obwohl permanent auf der Suche nach dem fränkischen Hausflur mit den drei Buchstaben, behauptete, er habe an Kreuzworträtseln überhaupt kein Interesse, und – vielen Dank, aber nein – er wüsste nicht, was er mit so einem Buch anfangen sollte. Was so glaubhaft war, wie wenn er behauptet hätte, er sei nicht wegen Blaufahrens mit tödlichem Ausgang verurteilt worden, sondern wegen seiner Mitgliedschaft beim Blauen Kreuz.
Er ist ein schlechter Lügner. Während er sein totales Desinteresse an seiner Lieblingsbeschäftigung beteuerte, wich er meinem Blick aus und rieb an seinem Ohrläppchen herum. Er hätte sich genauso gut einen Zettel mit «Glaub mir kein Wort» an die Stirn kleben können. Aber warum? Verdammt noch mal, warum?
Niemand spricht mit mir. Heute habe ich mich beim Abendessen neben einen Mann gesetzt, den ich schon ein paarmal bei der Bücherausgabe angetroffen hatte. Ein Leser also. § 30a Betäubungsmittelgesetz, sein Name tut nichts zur Sache. Ich habe ihm erzählt, dass ich jetzt für die Bücher zuständig sei, und habe ihn gefragt, warum er sich keine mehr holt. Und er? Hat wortlos sein Tablett genommen und sich woanders hingesetzt. Bin ich aussätzig?
Ich verstehe es nicht.
Dass in geschlossenen Gesellschaften seltsame Gerüchte umgehen, ist nur natürlich. Als ich gerade eingeliefert worden war, «noch nach Strasse roch», wie ein Lebenslänglicher das nannte, wurde ich vor der Margarine gewarnt, sie sei mit einem chemischen Stoff versetzt, der den Sexualtrieb dämpfe und von dem man früher oder später impotent werde. Vielleicht ist so ein Unsinn auch in Bezug auf die Bibliothek im Umlauf. Aber warum? Warum gerade jetzt?
Oder hat der offensichtliche Boykott gar nicht mit den Büchern zu tun, sondern mit mir? Wenn keiner etwas ausleihen will, aus welchem Grund auch immer, könnte mir das im Prinzip egal sein. Bleibt mir mehr Zeit, um selber in Ruhe zu lesen. Oder zu schreiben.
Aber wenn es an mir liegt …
Ich habe hier schon erlebt, wie jemand zur Persona non grata erklärt wurde, zum Paria, mit dem man besser keinen Kontakt hat. Das funktioniert ganz ohne offizielle Ankündigung, der Betreffende bekommt keinen scharlachroten Buchstaben angeheftet, und es bimmelt ihm kein Aussätzigenglöckchen voran. Aber jeder weiss: weiträumig umfahren. Damals stand der Betreffende im Verdacht, der Anstaltsleitung als Informant zu dienen, und ob nun ein derart Verdächtiger wirklich ein Spitzel ist oder nicht, früher oder später hat er einen Unfall, ein Topf mit heisser Suppe kippt um und verbrüht ihn, oder er stolpert unter der Dusche und stösst unglücklich mit dem Kopf gegen die Mauer.
Wenn also ein solches Gerücht über mich umgehen sollte …
Aus: Charles Lewinsky «Der Stotterer»
© 2019 by Diogenes Verlag AG Zürich
Buchvernissage
Mo, 1.4., 20.00 Kaufleuten Zürich
Charles Lewinsky
Charles Lewinsky, 1946 in Zürich geboren, hat Germanistik und Theaterwissenschaft studiert und als Dramaturg und Regisseur an diversen Bühnen gearbeitet, bevor er als Autor von Shows und Serien zum Fernsehen ging. Seit 1980 ist er freier Schriftsteller, international berühmt wurde er mit seinem Roman «Melnitz». Er gewann zahlreiche Preise, sein Werk wurde in 14 Sprachen übersetzt. Sein neuer Roman «Der Stotterer» erscheint am 20. März im Diogenes Verlag. Lewinsky lebt im Sommer im französischen Vereux und im Winter in Zürich.
Buch
Charles Lewinsky
Der Stotterer
416 Seiten
(Diogenes 2019)
Erhältlich ab Mittwoch, 20. März