Charles Dickens - Der Moralist zwischen Schein und Sein
Charles Dickens tritt in seinen Romanen als grosser Moralist auf. In seinem Leben genügte er den viktorianischen Sittenansprüchen bei Weitem nicht.
Inhalt
Kulturtipp 01/2012
Rolf Hürzeler
Im Jahr 1857 verweigert der amerikanische oberste Gerichtshof den Schwarzen die Staatsbürgerschaft. Der Dichter Charles Baudelaire kassiert in Frankreich eine Geldstrafe wegen «Beleidigung der öffentlichen Moral und Sitten» für seinen Gedichtband «Les fleurs du mal» («Die Blumen des Bösen»). Und ein Pariser Gericht spricht Gustave Flaubert von der Anklage frei, sein Roman «Madame Bovary» verstosse gegen Moral und Religion. So...
Im Jahr 1857 verweigert der amerikanische oberste Gerichtshof den Schwarzen die Staatsbürgerschaft. Der Dichter Charles Baudelaire kassiert in Frankreich eine Geldstrafe wegen «Beleidigung der öffentlichen Moral und Sitten» für seinen Gedichtband «Les fleurs du mal» («Die Blumen des Bösen»). Und ein Pariser Gericht spricht Gustave Flaubert von der Anklage frei, sein Roman «Madame Bovary» verstosse gegen Moral und Religion. So sah die abendländische Geisteswelt vor 150 Jahren aus.
Der Beginn der Liaison
In jenem Jahr begegnete der viktorianische Charles Dickens im Alter von 45 Jahren erstmals der jungen Schauspielerin Nelly Ternan. Er traf die 18-Jährige bei einem Auftritt im Londoner Haymarket Theater und verliebte sich gleich in sie. Dickens war damals der berühmteste englische Literat, eine Geistesgrösse – und sehr vermögend. Damit musste er der jungen Ternan als eine ziemlich attraktive Partie erschienen sein. Auch wenn er verheiratet war und Vater von neun Kindern. Der liebestolle Dickens verfolgte Ternan bei ihren Bühnen-Engagements quer durchs Land, bis sie seine Geliebte wurde – die Liaison dauerte bis zu Dickens’ Tod 13 Jahre später.
Dies ist das Ergebnis der renommierten Dickens-Biografin Claire Tomalin, die Ternans Leben minuziös recherchierte. Eine anspruchsvolle Aufgabe, denn Dickens setzte alles daran, die Beziehung im sittlich rigorosen 19. Jahrhundert geheim zu halten. Zumal er seinen Ruf als eine moralische Autorität seines Landes sorgsam pflegte. Nicht nur als eine öffentliche Autorität, sondern vor allem in seinen Romanen: Die wichtigsten Figuren lassen sich immer moralisch in gute und böse einordnen.
Der Tugendbold
So erscheint etwa in «David Copperfield» der Titelheld als der sympathische, liebenswerte Protagonist und der Büroschreiber Uriah Heep als der durchtrieben Böse schlechthin. Auch Dickens’ literarisches Frauenbild ist eindeutig: Frauen sind von edlem Charakter oder von zweifelhaftem Ruf. Zu einem solchen Tugendbold passte das Verhältnis mit einer Schauspielerin schlecht, zumal Frauen auf der Bühne damals als ruchbar galten. Selbst die Nachkommen von Dickens und Ternan verbrannten die wenigen zurückgebliebenen Briefe, denn sie befürchteten noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts einen Skandal.
Die Affäre zwischen dem mittelalterlichen Mann und der jungen Frau nahm nach kurzer Zeit eine Wende: Dickens Frau Catherine bekam eine Halskette in die Hände, die für Nelly bestimmt war. Das Paar trennte sich, aber Dickens konnte eine Scheidung vermeiden.
Charles Dickens hatte in dieser Dreiecksgeschichte keinerlei moralische Skrupel. Er fühlte sich mit seiner nahezu stets schwangeren Ehefrau gelangweilt und glaubte, in der jungen Nelly neue künstlerische Inspiration zu entdecken – dank ihrem Interesse an der Bühne und der Literatur.
Das Versteckspiel
Eine erfüllte Partnerschaft konnten die beiden wegen der gesellschaftlichen Zwänge nicht führen. Nelly Ternan musste sich immer versteckt halten. Dickens besorgte ihr komfortable Unterkünfte in der Nachbarschaft von London und sogar jenseits des Kanals in Boulogne. Beide waren meisterhaft im Vertuschen: Der weltgewandte Dickens ebenso wie Nelly Ternan. So gab sie sich nach seinem Tod um 13 Jahre jünger aus, als sie war. Denn sie suchte in der Ehe mit einem viel jüngeren Prediger und Schullehrer eine sichere Existenz. Vergeblich, der Mann war wenig lebenstüchtig. Ternan starb 1914 als verarmte Witwe.
Einmal wäre ihre Verbindung fast aufgeflogen. Am 9. Juni 1865 kam es in der Grafschaft Kent zu einem Zugsunglück mit zehn Toten. Das Liebespaar sass im Zug. Dank Dickens Beziehungen zu den Zeitungsleuten in der Londoner Fleet Street konnte er verhindern, dass Nelly in der Presse als seine Begleiterin auftauchte. Auch seine Aussage als Zeuge vor einem Untersuchungsausschuss konnte er vermeiden. Die Fassade des Moralisten blieb gewahrt.
Dickens führte ein ungesundes Leben. Zwar war er ein unermüdlicher Wanderer, doch konnte er Unmengen Whisky trinken; er war bereits mit 50 ein stark gealterter Mann. Am 9. Juni 1870, auf den Tag fünf Jahre nach dem Eisenbahnunglück, erlitt er einen Schlaganfall. Die Legende will, dass er in den Armen Nelly Ternans gestorben sei, die den Toten später heimlich in dessen Haus zurückbrachte.