Keine Angst, ich belästige Sie nicht mit dem allerneusten modischen Geschwätz über das postfaktische Zeitalter, die postfaktische Politik und die postfaktische Welt. Postfaktisch war die Welt schon zur Zeit Hitlers, zur Zeit Neros und wohl auch zur Zeit noch früherer, heute längst nicht mehr bekannter Usurpatoren von Macht, die nichts so fürchteten wie die ihre Macht untergrabende Wahrheit. Ich warte auch nicht auf mit einer komplexen Wahrheitstheorie, obwohl Wahrheit für viele Wahrheitstheoretiker nicht gleich Wahrheit ist.
Ich mag es viel einfacher, näher an der Sache selbst. Als Wahrheit soll für meine kleine Betrachtung gelten, was der Fall ist.
Wir sagen gern, die Wahrheit sei verborgen, man müsse sie suchen, aufdecken, ergründen oder erforschen. Das hat eher mit der Bibel zu tun als mit den Wissenschaften, denn die Wissenschaften erforschen die Gesetzmässigkeiten hinter demjenigen, was der Fall ist. Der Apfel fällt vom Ast wegen der Schwerkraft und nicht wegen des Gravitationsgesetzes. Aber die Bibel ist nicht der Glaube; wer zu ihm gelangen will, muss den Weg durch die ausgelegte Schrift gehen.
Also: Ich beschäftige mich als Sprachinteressierter mit Redewendungen, die von Wissenschaftlern Phraseologismen genannt werden. Aber ich will mich so mit ihnen beschäftigen, dass wir uns gut verstehen. Es geht um die Redensart etwas aus dem Ärmel schütteln, die wir heute noch gut verstehen. Sie steht für «etwas spielend, ohne Anstrengung erledigen». So kann ich klagen: Meine Schwester schüttelt alles aus dem Ärmel, während ich angestrengt büffeln muss.
Die Redensart ist alt. Das älteste Beispiel, auf das ich im Internet – im Originaltext – stosse, ist von 1521. Der Arzt und Publizist Alexander Seitz schreibt: «Es lasst sich nit gleych also bald ain predig uss dem ärmel schuttelen.» Ein zweites Beispiel gefällig, auch aus dem 16. Jahrhundert? In der «Pastorale Lutheri» von 1582 gibt der Dramatiker Konrad Porta zu bedenken: «Wenn ein Prediger also viel lesen und nachsuchen sol / so wird das Lehrampt ein schwer Ding sein / und werden sich die Predigten nicht aus dem Ermel schütten lassen / wie etliche fürgeben (behaupten).» Meine Suche zeigt, die Redensart dreht sich im 16. Jahrhundert vor allem um das Predigen von Geistlichen. Für eine Predigt muss man arbeiten, man kann sie nicht einfach aus den weiten Ärmeln der Kutte oder Soutane schütteln, als hätte man sie vorher hineingestossen, wie man die Hände oder andere Dinge hineinstösst, manchmal, um sie zu verbergen.
Mit den Ärmeln sind also ursprünglich vorab die Ärmel frühneuzeitlicher Prediger gemeint. Das merkte bereits Johann Christoph Adelung, der Verfasser des grossen «Grammatisch-kritischen Wörterbuchs der hochdeutschen Mundart» (um 1800). Er schrieb zur Redensart: «Ohne Zweifel von den weiten Ärmeln der Geistlichen, daher es auch besonders von Predigten, welche ohne Zubereitung gehalten werden, gebraucht wird.»
Deshalb bin ich erstaunt, auf andere Herkunftsgeschichten zu stossen. Christa Pöppelmann in ihrem Buch über Redensarten, «Ich glaub, mein Schwein pfeift!» (2010), Mirjam S. Paschke-Müller im Buch «TOMTASS – Theory-Of-Mind-Training» (2012) und andere behaupten, die Redensart komme aus dem Kartenspiel, «da man schummeln kann, indem man gute Karten in seinem Ärmel versteckt». Ich bin während meiner Suche in Originaltexten nicht auf die geringste Spur gestossen, die im Zusammenhang mit der Redensart auf die Ärmel von Spielern schliessen liesse.
Woher haben die das, frage ich mich, und beginne zu suchen – selbstverständlich im Internet, wo mir Tausende von Originaltexten zur Verfügung stehen. Ich werde fündig: Die Geschichte mit den Spielerärmeln steht bereits in der von Joseph Eiselein bearbeiteten Ausgabe der «Grammatik der hochdeutschen Sprache unserer Zeit» (1843) von Jacob Grimm: «Der Aussdruk rührt her von der Behendigkeit, mit welcher die Gaukler und Taschenspieler allerlei Dinge unbesehen auss dem Ärmel hervor ans Licht bringen.» Wie soll man unbesehen die Ärmel schütteln, frage ich mich. Die Geschichte ist ganz und gar erfunden, dazu noch schlecht. Eine Karte kann man nur unbemerkt aus dem Ärmel ziehen. Trotzdem verbreitet das «Herkunftswörterbuch» von Duden (2001) diese Mär immer noch: «Bei der Entstehung der Wendung kann speziell die Vorstellung der weiten Ärmel der Taschenspieler und Zauberer mitgewirkt haben.»
Selbstverständlich entfernte sich die Redensart von den Ärmeln der Prediger, und zwar bereits im 17. Jahrhundert. Ein schönes Beispiel stammt aus der Zeit des Dreissigjährigen Krieges. 1641 schrieb Königin Kristina von Schweden an einen deutschen Pfalzgrafen, nachdem ihr Oberbefehlshaber Johan Banér schwer verletzt worden war: «Hier (in Stockholm) achtet man es wenig; man meint er sey bald zu ersetzen; aber die kerls lassen sich nicht aus der ermel schütten.» Nirgends tauchen in Originalquellen Spieler auf, die Karten aus dem Ärmel schütteln.
Ich gebe zu, das Problem ist nicht weltbewegend. Aber Windeier findet man überall, wenn das Erkennen der Wahrheit eine gewisse Hartnäckigkeit und Arbeit verlangt. Verborgen ist sie nicht, sie liegt hier offen in den Originalquellen, die zu Tausenden im Internet einsehbar sind. Man darf nur nicht zu faul sein, sie zu durchforsten. Man darf zudem nicht unbesehen abschreiben, was offenbar auch Grundlagenbücher machen, denen man vertrauen können sollte. Wenn bei so kleinen Wahrheiten die Bequemlichkeit vieler offenbar so viel mehr wiegt in einer Welt schneller Tweets und Hashtags, wie ist es dann erst um die grossen Wahrheiten bestellt, frage ich mich. Offenbar lassen wir uns gern trumpiere mit dem, was uns schön angerichtet auf grossem Teller gereicht wird. Das wollte ich mit einem guten, alten berndeutschen Wort doch noch gesagt haben.
Christian Schmid
Geboren 1947 in Rocourt, Kanton Jura, studierte Christian Schmid Germanistik und Anglistik in Basel und New York. Er wirkte als Assistent am Deutschen -Seminar der Universität Basel (1980–1988), wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Sprach-atlas der deutschen Schweiz (1983–1996) und Lehrbeauftragter an der Universität Zürich (1997–2003). Von 1988 bis zur Pensionierung 2012 war er Redaktor bei Schweizer Radio DRS 1, bei «Land und Leute» oder «Siesta», zuletzt in der Literaturredaktion der Abteilung Kultur SRF, etwa als Mitbegründer der Mundartsendung «Schnabelweid».