Klassik
Tenor zwischen Stuhl und Bank
Kein Opernstar dieser Welt bewegt sich so elegant zwischen Stuhl und Bank wie Placido Domingo. Ein Leben lang war er der Tenor mit etwas gar baritonalem Fundament. Vielleicht sang er sich gerade deswegen in den Tenorhimmel – und noch darüber hinaus. Es gab kaum eine Rolle, die er in seiner über 50-jährigen Karriere nicht bewältigte: Ob Verdi oder Wagner, Zarzuela oder Mozart. Seit einigen Jahren aber ist Domingo als Bariton unterwegs auf den Weltbühnen. Nur eben heisst es nun: Etwas gar hell ist die Stimme für die dunklen Typen. Egal? Auf nackter CD erkennt man all die Verdi-Helden von Macbeth über Rigoletto bis zu Simon Boccanegra sehr wohl, aber immer wieder denkt man: Warum singt er nicht die Tenorrolle? Verkehrte Welt? Quatsch: Opernzirkus! Aber vom Feinsten.
Christian Berzins
Placido Domingo
Verdi
(Sony 2013).
World
Songs der ägäischen Subkultur
In der britischen Musikszene ist Cigdem Aslan bekannt: Als Sängerin der Klezmerband She’Koyokh hat sie für Furore gesorgt. Nun besinnt sich die in Istanbul geborene Kurdin auf die multiple Kultur ihrer Heimatregion und eine besondere Epoche. Auf ihrem Solodebüt «Mortissa» interpretiert sie Rembetiko-Lieder griechischer Flüchtlinge, die in den 1920er-Jahren aus der Türkei in ihre alte Heimat abgeschoben wurden. Lieder voller Wehmut und zugleich triefend vor Lebensfreude, weshalb sie auch als «ägäischer Blues» bezeichnet werden. Es sind Songs von Underdogs, die in Piräus und Thessaloniki ein neues Leben beginnen mussten. Oder in Istanbul, denn auch die Griechen schickten türkische Staatsbürger damals zurück. Cigdem Aslan vereint auf ihrer CD Lieder in Griechisch und Türkisch – eine so sinnvolle wie stimmige Programmierung.
Frank von Niederhäusern
Cigdem Aslan
Mortissa
(Aspahlt Tango 2013).
Klassik
Feiner Dirigierstab
Pablo Heras-Casado hat den Lockenkopf und die Unbekümmertheit von Gustavo Dudamel. Aber im Gegensatz zum Jungstar aus Venezuela führt der Südspanier den Dirigierstab feiner. Seine Erfahrung mit alter und zeitgenössischer Musik lässt ihn die Dinge jenseits der Konventionen angehen. In seiner ersten Aufnahme mit dem Freiburger Barockorchester stürmt er mit raschen Tempi und glasklarem Sound voran. Bitte mehr in dieser Konstellation!
Lislot Frei, SRF 2 Kultur
Schubert
Symphonies 3 & 4
(Harmonia Mundi 2013).
5/5
Schwedens Geheimtipp
Streicherklänge, nervös bewegt, aber regelmässig, kaum verfremdet und tonal zentriert: Das Streichorchesterstück «Ein schneller Blick … ein kurzes Aufscheinen» beginnt konventionell. Und doch horcht man gebannt zu. Der am 20. Mai verstorbene schwedische Komponist Anders Eliasson war zwar ein Aussenseiter der Neuen Musik und verweigerte sich vielen Innovationen, aber mit seinen persönlichen Mitteln erreichte er eine ungemeine Intensität.
Thomas Meyer, SRF 2 Kultur
John-Edward Kelly Plays
Anders Eliasson
(Neos 2013).
4/5
Jazz
Melodischer Genuss
Das präzise Klavier von Carla Bley, die hypnotisch ziehenden Basslinien von Steve Swallow, das geschmeidig artikulierende Saxofon von Andy Sheppard: «Trios» bietet Jazz mit dunklem Schönklang, leidenschaftlich und kontrolliert. Die Musik ist gut verständlich und bietet bei aller lyrischen Gestaltungskraft auch das Tänzelnde. Es handelt sich durchwegs um Arrangements von bekannten Carla-Bley-Kompositionen, die dieses Trio mit grosser Souveränität neu interpretiert. Pirmin Bossart
Carla Bley/Andy Sheppard/
Steve Swallow
Trios
(ECM 2013).
4/5
weggeblasene Welt
Gegen diese Musik wirken sämtliche Energy-Drinks wie Schlafmittel. Der 52-jährige US-Saxofonist Kenny Garrett hat einen Sound, der – kombiniert mit seinen Kompositionen – geeignet wäre, die Welt aus der Bahn zu blasen. Eine Welt, die Kenny Garrett mit diesem Album zwar nicht neu erfindet: Aber wer so souverän und fantasievoll
mit ihr spielen kann, hat das nicht nötig. Also anschnallen, Play drücken, geniessen!
Jodok Hess, SRF 2 Kultur
Kenny Garrett
Pushing The World Away
(Mack Avenue 2013).
5/5
Sounds
moderater Stilwechsel
Sheryl Crow fühlt sich schon lange in Nashville zu Hause. Jetzt legt sie ihr erstes Country-Album vor. Radikal anders als in den 1990ern tönt sie allerdings nicht. Vielmehr hat sich der US-Country-Mainstream massiv Richtung Pop und Rock verschoben. Darum: Etwas Steel-Gitarre oder Fiddle – und man ist dabei. Süffig, aber sicher nichts «Verrücktes». «Crazy Ain’t Original» besingt Crow jene Wallstreet-Banker, die auf Harleys den Weekend-Krieger mimen. Geri Stocker, SRF 1
Sheryl Crow
Feels Like Home
(Warner 2013).
3/5
Elektronische Poesie
Folkpop bleibt die Basis von Emiliana Torrinis subtilen Songs. Manche reduziert sie auf akustische Gitarre und Synthesizer-Tupfer. In stimmungsvoller Vielfalt bewegt sich die isländische Sängerin auf ihrem vierten Album aber stärker in elektronischen Gefilden. Die grazilen Ausflüge in Pop Noir und leichtfüssigen Disco, afrikanische Anleihen und krautige Steigerungen machen «Tookah» zu einem bezaubernden Album voller elektronischer Poesie.
Silvio Biasotto
Emiliana Torrini
Tookah
(Rough Trade 2013).
4/5
World
Äthiopisches aus Genf
Das Imperial Tiger Orchestra aus Genf hat sich seit einigen Jahren dem Sound aus Addis Abeba der 1970er-
Jahre verschrieben. Auf ihrem neuen Album «Wax» vertont die Gruppe jetzt die ländliche Musik Äthiopiens und zwei Stücke aus dem Sudan. Die Musiker spielen quere Rhythmen mit sattem Bandsound. Neu experimentieren sie mit elektronischem Beat, 1980er-Synthesizer-Windungen und kurzen Free-Jazz-Passagen.
Thomas Burkhalter
Imperial Tiger Orchestra
Wax
(Moi J’connais Records 2013).
4/5
Tex-Mex revisited
Ry Cooders Liebe zur US-Roots-Musik in all ihren Facetten ist so zeitlos wie unvergänglich. Speziell wenn es um die Tex-Mex-Variante geht. Auch diesmal ist Meisterakkordeonist Flaco Jimenez dabei, dazu eine regelrechte mexikanische Blasmusik. Alle zusammen spielen Genre-Klassiker wie «Volver Volver» oder «Woolly Bully». Aber auch Blues und Soul, zudem Folkstücke von Woody Guthrie. Ein Meister zeigt, was Americana wirklich bedeutet.
Martin Schäfer, SRF 3
Ry Cooder & Corridos Famosos
Live in San Francisco (Warner/Nonesuch 2013).
5/5