Im Jahr 1982 verliessen meine Eltern und ich Rumänien. Ich habe 15 Jahre lang die Diktatur Ceausescus erlebt, die kommunistische Schule und die Propaganda. Aber es war nicht lang genug, um mich zu verformen oder gar zu brechen. Ich bekam keine Angst vor dem Anderen, dem Du, das ein Denunziant oder ein Geheimdienstmitarbeiter hätte sein können. Ich habe mein Urvertrauen bewahrt, meine Würde.
Rumänien bleibt für mich eine oft aufgesuchte Heimat, die als Motiv all meine Romane prägt. Aber in der Schweiz, in einem sogenannt freien Land, habe ich erkannt, wie viel Verantwortung der Staat und die Gesellschaft tragen, damit man sich entsprechend seinem Können und seinem Talent entwickeln kann. In Rumänien und durch die Emigration bekam ich meine Lebensthemen, in der Schweiz aber den Raum, um sie in Literatur zu verwandeln. Die rumänische Kindheit gab mir die emotionelle Färbung, die Schweiz formte mich als kritischen Menschen und prägte meinen geistigen Horizont.
Aber damit das gelingen konnte, lernte ich die Sprache meines neuen Zuhauses. Ich nahm die neue Kultur an, ich blieb kritisch, aber baute keine Abwehrhaltung gegen die Mehrheitskultur auf. Ich fühlte mich nicht bedroht. Es war eine Art Integration ohne Assimilation, denn ich habe meinen klaren, unabhängigen Kopf und kann auf beiden Seiten austeilen. Und ich kann in beiden Kulturen navigieren.
Ich gelte heute als Schweizer Schriftsteller mit rumänischen Wurzeln. Schon darin zeigt sich die Durchdringung der beiden Welten, die zu meiner von der Nationalität losgelösten Identität führten. Ich nahm aus den beiden Kulturen das für mich Beste und formte daraus etwas Drittes. Deshalb glaube ich, dass eine Minderheit nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten hat, um das Leben zu meistern und um sich entfalten zu können. Der Rückzug in einen Kokon ist keine wirkliche Alternative dazu. Die geistige Ghettoisierung ist das Ende des Dialogs, und das gilt für beide Seiten.
Die Schweiz könnte ein leuchtendes Beispiel sein. Sie ist es nur zum Teil. Sie hat zwar im Zweiten Weltkrieg Tausende Flüchtlinge aufgenommen, aber auch die Grenzen geschlossen und im Zuge einer antisemitischen Politik weitere Tausende jüdische Menschen in den sicheren Tod geschickt. Sie hat viele Menschen während des Bosnien-Krieges aufgenommen. Doch zur selben Zeit, in den 90er-Jahren, begann auch der beispiellose Aufstieg einer der profiliertesten europäischen rechtsnationalen Parteien: der SVP. Sie weiss knapp 30 Prozent Wähleranteil hinter sich. Ich möchte nicht daran denken, was passieren würde, wenn der Schweizer Wohlstand einbräche.
Die SVP ist gefährlich, weil sie so normal erscheint. Es sind keine Spinner, keine Aussenseiter, keine Glatzköpfe. Ihre Politiker sind oft Unternehmer oder Bauern, sie tragen Anzug und Krawatte und haben eine blütenreine Weste. Sie hat ihr simples Mittel und hält durch ihre Parolen ihre Stammwählerschaft in permanenter Wachsamkeit, denn es gibt immer etwas, was die Schweiz bedroht: eine Flüchtlingswelle oder die EU.
Doch gibt es Lichtblicke, es gibt die andere Seite: Dreimal hintereinander wurde der Schweizer Buchpreis an Autoren mit fremden Wurzeln verliehen. Und ghettoähnliche Viertel wie in englischen oder französischen Städten gibt es nicht. Die soziale Durchmischung stimmt noch. Auch schaffen in der Regel Menschen aus der zweiten oder dritten Generation Eingewanderter den gesellschaftlichen Aufstieg.
Was hält die Schweiz im Inneren zusammen? Schwer zu sagen. Vielleicht ist es am ehesten das Gefühl jeder der vier Kulturen, von den anderen nicht bedroht und erdrückt zu sein. Eine Stimme zu haben, die gehört wird. Das stimmt paradoxerweise immer noch, auch wenn die französische Schweiz seit Jahren bei einigen wichtigen politischen Themen von der Deutschschweiz überstimmt wird.
Auf der anderen Seite aber haben wir die Schweiz als eine Diktatur der Mehrheit. Der oft aufbrausenden, blinden, sich ängstigenden, ignoranten Volksseele, mit deren Hilfe die populistische SVP das Land in Griff hält.
In der Schweiz leben grosse Volksgruppen der Bosnier, Kosovaren, Albaner, Eritreer oder Tamilen, aber persönliche Kontakte zu ihnen habe ich oder haben meine nächsten Freunde keine. Sie sind oft unsichtbar, ausser wenn ein neues indisches Take-away aufgeht oder wenn man in der Küche eines Restaurants nachschaut und dort die tamilischen Tellerwäscher entdeckt. Man bleibt gerne unter sich. Es herrscht eine gegenseitige Ignoranz.
Wie könnte eine partizipative Multikulturalität aussehen, bei der man sich nicht aus der Verantwortung stiehlt, sondern Beziehung, Begegnung und Dialog ins Zentrum rückt? Wie könnte eine wirklich wertegeleitete Multikulturalität aussehen? Ich bin gespannt auf die Antworten der Forschung auf solche und ähnliche Fragen.
Durch die Prozesse der Globalisierung, durch die Flüchtlingsströme, durch die Mobilität unserer Zeit werden die Gesellschaften, die Nationen nicht homogener, nicht reiner. Etwas, was sie ja in Wirklichkeit nie waren. Sie werden bunter, heterogener, spannungs- und konfliktreicher. Dieser Prozess ist nicht zu stoppen, wir können die Uhrzeiger nicht zurückdrehen, ohne unsere Prinzipien der offenen Gesellschaft, der Toleranz und der Solidarität aufzugeben.
Abschottung, Nationalismus, Angst sind keine guten Antworten darauf. Wir brauchen gute Instrumente der Mediation zwischen den Kulturen und den einzelnen Gesellschaftsgruppen. Zwischen dem Vertrauten und dem Fremden. Zwischen dem Ich und Du. Auf diesem Weg sind klare Werte, ein kritisches Denken und Empathie die wichtigsten Hilfsmittel, die ein Mensch mit mutigem Herzen und tiefem Verstand braucht. Sie werden am besten vermittelt durch eine humanistische Erziehung und Pädagogik und durch eine Kultur, die diesen Namen überhaupt noch verdient. Dafür lohnt es sich zu kämpfen.
Catalin Dorian Florescu
Der Schriftsteller kam als Jugendlicher aus Rumänien in die Schweiz und studierte Psychologie. Er arbeitete in einem Rehabilitationszentrum für Drogenabhängige. Der heute 48-Jährige ist freier Schriftsteller und wurde mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Kürzlich ist sein neuer Roman «Der Mann, der das Glück bringt» im C.H. Beck Verlag erschienen.
Lesungen
Fr, 4.3., 20.15 Buachlada Kunfermann Thusis GR
Do, 10.3., 19.30 Literaturhaus Zürich
Fr, 11.3., 20.00 Bibliothek Eglisau ZH