Eines Tages werde ich ein Buch schreiben, dessen Titel heute schon feststeht, obwohl noch keine Zeile davon geschrieben wurde. Dies ist der erste Schritt. Das Buch – weder Sachbuch noch Roman – wird «Beromünster» heissen. Aufgrund des Titels wird kaum noch jemand wissen, worum es darin gehen könnte. Beromünster? Fragende Blicke. Ein Aufflackern der Erinnerung bei älteren Schweizern, Verständnislosigkeit bei den allermeisten anderen. Früher wäre das anders gewesen.
Im Althochdeutschen heisst «Bero» Braunbär, bei den alten Germanen war das die Bezeichnung für den Sippenältesten; für den, der alles bestimmte. Von beiden Begriffen ist Beromünster weit entfernt, obwohl sich der Name dieses Orts, der im Kanton Luzern liegt, vermutlich aus einer dieser Bedeutungen – vielleicht aus beiden – herleitet. Doch wer vor 50, 60 Jahren Beromünster meinte, sprach nicht von einem Ort mit etymologisch unsicheren Ursprüngen, sondern von einer Institution, deren Bedeutung so gross und bedeutsam war wie ein Sendeturm. Das war zu einer Zeit, als das Radio einen Einfluss hatte, den es inzwischen verloren hat. Andere Formen der Kommunikation haben es abgelöst. Man mag es beklagen, es lässt sich nicht ändern. Das Radio hat andere Funktionen übernommen, mal mehr, mal weniger geschickt.
Eines Tages werde ich ausführlich auf die ausserordentliche Bedeutung des Landessenders Beromünster zwischen 1933 und 1945 zurückkommen, dessen Antenne übrigens gar nicht in Beromünster, sondern in Gunzwil stand – oder noch steht (was ich bis dahin genauer recherchiert haben werde). Eine nicht zu unterschätzende Bedeutung, die mit jedem Tag, den der Zweite Weltkrieg dauerte, grösser wurde, da von hier aus Nachrichten über den tatsächlichen Kriegsverlauf in alle Welt hinausgingen, die jenen immer öfters widersprachen, die der deutsche Reichsrundfunk sendete.
Dass ein «Landessender» nicht den Namen des Landes oder der Stadt trug, aus der er sendete, war damals – als die Sender durchwegs Hilversum, Schwerin oder Budapest und nicht etwa Radio 24 oder big FM hiessen – eher ungewöhnlich; in einem Meer der Konformität bildete die Schweiz hier eine kryptisch anmutende Ausnahme. Denn produziert wurde natürlich weder in Beromünster noch auf dem Blosenberg, wo 1937 eine weitere, grössere Anlage in Betrieb genommen wurde, sondern in Zürich, Bern und Basel. Doch Ehre, wem Ehre gebührt – und das war eben nur zum Teil der Mensch, der sie erfunden hatte. Ehre gebührte den T-Antennen in Beromünster und der Umgebung, die den Empfang des Mittelwellensenders in ganz Europa möglich machten, so auch in Berlin, so auch im Warschauer Ghetto.
Meine erste Begegnung mit dem Radio als öffentlichem Ort der Selbstdarstellung geht auf die 60er-Jahre zurück, als ich durch Vermittlung einer Kollegin meines Vaters an einer Jugendsendung teilnehmen durfte, in der Schüler bekannte Persönlichkeiten interviewten. Das war der Beginn einer andauernden, losen Verbindung mit dem «Massenmedium», dem meine Aufmerksamkeit galt (und gilt), seitdem ich denken kann. In «meiner» ersten Sendung stand der Schauspieler Buddy Elias im Mittelpunkt, den ich zu keiner Zeit selbst auf der Bühne gesehen hatte und von dem uns nicht gesagt worden war, dass es sich um den Basler Cousin von Anne Frank handelte, deren Tagebuch ich natürlich gelesen hatte. Was hätte ich ihn also – nichtsahnend – fragen sollen?
Angesichts meines zunehmenden Lampenfiebers (das kannte ich schon von meinen wenigen öffentlichen Auftritten im Konservatorium) und dem daraus resultierenden, fast totalen Verstummen – ich habe höchstens eine Frage gestellt –, wäre mein erster beinahe auch mein letzter «Radioauftritt» geblieben. Es sollte anders kommen, auch wenn es noch eine Weile dauerte, bis ich wieder vor ein Mikrofon gebeten wurde. Mit 18 schrieb ich mein erstes Hörspiel – in Mundart. Es fand Gefallen bei der Hörspielabteilung und bei Joseph Scheidegger, der es produzierte. Eine Reihe weiterer Hörspiele und Übersetzungen folgten und trösteten mich bis zu meiner ersten Buchveröffentlichung notdürftig darüber hinweg, dass noch nichts Gedrucktes vorlag, nichts Haltbares also. Hörspiele wurden gesendet, wiederholt – und vergessen. Aber immerhin erhielt man ein Honorar, das einen darin bestärkte, dass man ein Autor war.
Aber eigentlich greife ich damit viel zu weit vor. Ich sollte zuallererst von den Radioapparaten erzählen, die meine
Eltern besassen und die – mehr als später je ein Fernseher – im Mittelpunkt sowohl des familiären als auch des individuellen Interesses standen. Natürlich war es zunächst nur einer; er stand im Wohnzimmer, öffnete bei Bedarf sein grosses grünes Auge und wurde später durch den Schneewittchensarg der Firma Braun ersetzt. Aus ihm hörte ich die Nachricht von John F. Kennedys Tod, dank ihm begleitete ich Winston S. Churchill auf seinem letzten Gang durch London (und fragte mich, was eine Lafette sei, denn auf einer solchen lag sein Sarg). Dass ich mehr gesehen hätte, wären Bilder auf einem Fernsehschirm an mir vorbeigezogen, kann ich nicht behaupten. Später kamen wechselnde Transistorradios hinzu, allen voran der äusserst störanfällige Hitachi, der selbst den Fall aus dem ersten Stock überlebte, vielmehr dadurch wiederbelebt wurde, dass ich ihn aus Wut aus dem Fenster warf. Leicht ramponiert und mit abgebrochener Antenne funktionierte er danach fast einwandfrei. Das war das Radio, das mich mehr bildete als alles, was ich in der Schule lernen konnte (oder hätte lernen können). Sonntagabends lernte ich nach und nach sämtliche Operngesamtaufnahmen der Musikgeschichte kennen, eingeführt und nacherzählt von dem Mann mit der unverwechselbar melodiösen Stimme, die schon sang, noch bevor die erste Note der Ouvertüre ertönte. Sein Name N.O. Scarpi (das Pseudonym des jüdischen Emigranten Fritz Bondy) war fast so klangvoll wie seine Art zu sprechen. Dass es sich dabei um Prager Deutsch handelte, ist mir erst viel später bewusst geworden (wie hätte mich die Schule das lernen können, wo nicht einmal Opern zum Unterrichtsstoff gehörten?).
Doch das war erst der Beginn. Zu Radio Beromünster habe ich noch mehr zu sagen. Fortsetzung folgt an anderer Stelle.
Alain Claude Sulzer
Alain Claude Sulzer wurde 1953 in Riehen bei Basel geboren. Er machte eine Ausbildung zum Bibliothekar und arbeitete als Journalist. Heute lebt er als freier Schriftsteller in Basel, Berlin und im Elsass. Für etliche seiner zahlreich erschienenen Romane wurde er ausgezeichnet. So gewann etwa sein Roman «Ein perfekter Kellner» in Frankreich den Prix Médicis étranger 2008 und wurde ein Bestseller.