In manchen Ereignissen bündelt sich die Geschichte wie in einem Brennglas. Von Dornach hörte ich zum ersten Mal im Juli 1994, als ich sieben Jahre alt war. Es war mein erstes Sommerlager mit den Pfadfindern, und wohl nicht von ungefähr war das Thema dieser Woche Ritter gewesen. Im Tal der Birs, in dem Dornach liegt, gibt es zahlreiche Burgen und Schlösser, und sogar unser Ferienheim war nur einen Steinwurf von einem solchen entfernt.
Ich erinnere mich an Kämpfe mit Schaumstoffwaffen in alten Ruinen und Geschicklichkeitsspiele auf alten Panzersperren, den stummen Zeugen jenes deutsch-schweizerischen Konflikts, der glücklicherweise nie zum Ausbruch kam. Das entsprach recht genau meinen kindlichen Vorstellungen des Mittelalters, das aus Ritterturnieren, heldenhaft ausgefochtenen Kämpfen und manchmal auch aus Drachen bestand.
Seltsamerweise erwähnten unsere Leiter mit keinem Wort, dass im späten Mittelalter genau an diesem Ort tatsächlich eine blutige Schlacht stattgefunden hatte, die die Entscheidung in einem Konflikt brachte, der in Deutschland bezeichnenderweise als Schweizerkrieg, in der Schweiz hingegen als Schwäbischer Krieg bekannt ist.
Am späten Nachmittag des 22. Juli 1499 wurde das hier lagernde schwäbische Heer von den anrückenden Eidgenossen überrascht und vernichtend geschlagen, was gravierende Folgen für das deutsch-schweizerische Verhältnis hatte. Fortan gingen die Eidgenossen und das Deutsche Reich de facto getrennte Wege, was 1648 auch juristisch besiegelt wurde.
Ich wusste damals also nicht, dass genau 495 Jahre zuvor die eidgenössischen Truppen über den Hang neben unserem Ferienheim hinunter ins Gefecht gezogen waren. Und vor allem wusste ich nicht, dass sich unter ihnen einer meiner Vorfahren befunden hatte.
Mein Urahn Andreas Wild, geboren 1457 in Herzogenbuchsee und gestorben um 1530 in Wynigen, war in jeder Hinsicht ein aussergewöhnlicher Mann. Er entstammte einer Grossgrundbesitzerfamilie, gehörte also zur schmalen Oberschicht. Dadurch lässt sich wohl auch seine unübliche Brautwahl erklären, denn Geld heiratet bekanntlich Geld: Um 1480 ehelichte er eine begüterte Luzernerin. Grenzüberschreitende Hochzeiten waren damals bereits äusserst selten, auch wenn der fast unüberbrückbare konfessionelle Graben zwischen Luzern und Bern erst rund 50 Jahre später entstand.
Auch was die Kenntnis der damaligen Welt angeht, hob sich Wild aus der Masse hervor. Bekamen die meisten seiner Zeitgenossen zeitlebens kaum mehr als ihren Wohnort und allenfalls den Umkreis einer Tagesreise zu Gesicht, hatte er auf seinen Kriegszügen nicht nur grosse Teile der heutigen Schweiz, sondern auch Ostfrankreichs und Oberitaliens kennengelernt. Für einen Menschen des Spätmittelalters war das höchst ungewöhnlich.
Auch äusserlich muss mein Vorfahre eine auffallende Erscheinung gewesen sein. Sein blau-gelbes Festkleid, das sich heute im Historischen Museum Bern befindet, lässt auf eine enorme Körpergrösse schliessen.
Schliesslich sticht Andreas Wild auch durch die Tatsache hervor, dass man vergleichsweise viel über ihn weiss, denn selten tritt uns ein Mensch des Spätmittelalters so plastisch entgegen wie er. Das liegt mitunter an seinen zahlreichen Rechtshändeln, mit denen er häufig aktenkundig wurde. Dann hat aber auch seine Familie, das Berner Patriziergeschlecht der Wild, dessen Ahnherr Andreas Wild ist, durch Vererbung von Generation zu Generation dafür gesorgt, dass neben dem bereits erwähnten Kleid ein roter Hut, ein grosses Zweihandschwert und eine Silberkette erhalten blieben. Nur dank dieser Kette, die aus der Beute von Dornach stammt, wissen wir überhaupt von seiner Teilnahme an der Schlacht.
Auf schwäbischer Seite fielen an jenem Nachmittag im Juli 1499 rund 3000 bis 4000 Soldaten, die Eidgenossen verloren knapp 1000 Mann. Das Schlachtfeld, so berichten es Zeitgenossen, muss einen grausamen Anblick geboten haben. Von der unermesslichen Gewalt zeugen noch heute die Schädel und Knochen der Gefallenen, die über die Jahrhunderte zutage gefördert wurden. Sie alle weisen massive Hiebspuren auf, viele zeigen sogar mehrere Verletzungen, von denen freilich jede einzelne tödlich gewesen sein muss.
Mein Verhältnis zu diesen Schädeln, die in zahlreichen Schweizer Museen ausgestellt sind, hat sich über die Jahre verändert. Während mich als Kind stets ein wohliges Gruseln erfasste, wenn ich sie sah, entwickelte ich im Verlauf meines Archäologiestudiums mehr und mehr die nüchterne Gleichgültigkeit des Wissenschafters, der bei seinen Ausgrabungen in aller Welt Dutzende vergleichbarer Fälle gesehen hat.
Diese Beachtungsweise bekam erst in jüngster Zeit wieder Risse, als ich in Solothurn den Schädeln der Dornacher Gefallenen erneut begegnete. Plötzlich stand mir das Schwert meines Vorfahren vor Augen, und ich erinnerte mich nun, gelesen zu haben, dass den Soldaten, die das Zweihandschwert führten, im Kampf die Aufgabe zufiel, Lücken im feindlichen Speerwald auszunutzen, hineinzustürmen und die in ihrer Bewegung eingeschränkten Lanzenträger niederzumetzeln.
Ich habe mich seither oft gefragt, ob manche der übel zugerichteten Schädel im Museum das Werk meines Vorfahren sind, und manchmal, wenn sich die Wahrheiten in meinem Kopf aufzulösen beginnen, denke ich darüber nach, was es bedeuten würde, wenn die Eidgenossen jene Schlacht verloren hätten und es der Schädel meines Vorfahren wäre, der im Museum liegt.
Ich bin dann ganz eingenommen vom Gedanken, dass es weder mich noch das Land, in dem ich lebe, so gäbe, und wenn ich die Sache dann weiterspinne, erscheint vor meinem inneren Auge ein süddeutscher Schriftsteller mit Bart und Geheimratsecken, der einen Text über die von den Schwaben gewonnene Schlacht von Dornach schreiben würde. In diesem Text würde er über die wirre Idee nachdenken, dass das südlichste deutsche Bundesland, die Schweiz, heute möglicherweise ein unabhängiger Staat wäre, wenn die Eidgenossen damals gesiegt hätten.
Zur Person
Demian Lienhard ist 1987 in Bern geboren. Er hat in klassischer Archäologie promoviert. Für sein Romandebüt «Ich bin die, vor der mich meine Mutter gewarnt hat» wurde er mit dem Schweizer Literaturpreis 2020 ausgezeichnet. Mit dem Roman «Mr. Goebbels Jazz Band» ist er für den Schweizer Buchpreis nominiert, der am 19. November verliehen wird. Demian Lienhard lebt in Zürich.