Die Welt ist in Bewegung. Schon wieder Advent. Ich bin noch nicht so weit. Mit den Gedanken bin ich einige Monate zurückgeblieben. Im Spätsommer, im Herbst. Auch körperlich bin ich noch nicht winterfest, dauernd friere ich. Advent. Ankunft. Wer oder was kommt? Was oder wen erwarten wir?
Ist das die Stadt, in der ich lebe, fragte ich mich am frühen Spätsommerabend des 10. September. Auf dem Weg zu meiner Verabredung radelte ich vom edlen Alsterpark durch den Hamburger Stadtteil Uhlenhorst. Ich komme so gut wie nie in diese Gegend. Ich staunte. Ausnahmslos jeder Mensch, jedes Auto, jedes Haus war schön, gepflegt und bestens in Schuss. Alles, einfach alles ist teuer, erlesen, exklusiv; es leben dort ganz offensichtlich ausschliesslich Reiche. Alle anderen verirren sich nicht einmal als Passanten hin. (Bis auf mich.) Es gibt keine Zäune und keine Einlasskontrollen, dennoch sieht man nichts und niemanden, der da nicht hingehört. Es lässt sich nur blicken, wer es sich leisten kann. Normalverdiener bleiben freiwillig draussen. Bettler und Obdachlose sowieso. Und Flüchtlinge erst recht.
Ein paar Tage später fuhr ich mit dem Zug von Hamburg nach Salzburg. Die Fahrt endete im bayerischen Freilassing, die Bahnstrecke zwischen Deutschland und Österreich war unterbrochen, seit drei Tagen hatte Deutschland Grenzkontrollen eingeführt. Vor dem Bahnhofsgebäude stand ein Bus bereit. Zollbeamte und Polizisten kontrollierten den Einstieg. Jeder Passagier musste sein Billett und seinen Ausweis zeigen. Dann wurde die Tür geschlossen, und der Bus fuhr los. Es sind nur ein paar Kilometer von Freilassing nach Salzburg, ein kurzes Stück Autobahn mit diversen Zu- und Ausfahrten. Nach wenigen Minuten Fahrt gab es kein Weiterkommen mehr, unser Bus sass fest. In beiden Richtungen war Stau, selbst die Pannenspuren, die Ausfahrten und Zubringer waren verstopft. Autos, eins ans andere gereiht, wie festgekrallt. Zwischen den Autos jedoch bewegten sich Hunderte von Menschen zu Fuss über die Fahrbahn, sie schoben sich in langen, nicht endenden Kolonnen, mit Taschen und Koffern, an den stehenden Autos vorbei und gingen ihres Weges: Alte, Junge, Kinder. Wir glotzten sie aus unserem Bus heraus an, aber sie schienen uns nicht wahrzunehmen. Sie strömten weiter. Im Bus wurde es immer heisser. «Können Sie bitte die Türen öffnen», rief eine Frau. Aber der Busfahrer rief zurück: «Darf ich nicht!»
Nach meiner Rückkehr nach Hamburg sass ich morgens vor einem Kaffee und las Zeitung. Eine Frau näherte sich auf dem Fahrrad. Sie schien erregt. Sie kam vor dem Café zum Stehen, wandte sich an die Gäste und sagte laut: «Das Geld, das ihr hier vertrinkt, wird den Flüchtlingen vorenthalten!»
«Wir haben Sie nicht um Ihre Meinung gebeten», sagte ein Mann am Nebentisch. «Das Geld steht den Asylsuchenden zu!», rief die Frau, ihre Stimme zitterte.
Die Besitzerin des Cafés kam heraus, drohte der Frau mit der Polizei und beeilte sich zu erklären, es handle sich um eine stadtbekannte Verrückte. Die Frau entfernte sich unter Protest. Die anderen Gäste taten, als sei nichts vorgefallen, und wandten sich ihren Tassen, ihren Zeitungen, ihren Smartphones oder Begleitern zu.
Als der Vater meiner Kinder die beiden am späten Nachmittag nach Hause brachte und der Grosse fragte: «Können wir nicht noch länger verabredet sein?», antwortete sein Vater: «Tut mir leid, ich muss zu den Flüchtlingen.» Nacht für Nacht, sagte er, müssten Menschen weggeschickt werden, es könnten nur bis zu maximal 100 Personen aufgenommen werden. Frauen und vor allem Kinder hätten Vorrang, er streichelte seinen Söhnen über den Kopf. «Tschüss, ihr beiden!» «Papi», schrien sie ihm nach und rannten von der Wohnungstür zum Balkon. «Papi! Wann können wir uns wieder verabreden?» «Er muss zu den Flüchtlingen», sagte der Grosse, als ich die Balkontür schloss.
Ich fuhr in den letzten Wochen und Monaten kreuz und quer durch unseren Sprachraum, und wo ich hinkam, bot sich mir das gleiche Bild: überfüllte Bahnhöfe, Bahnsteige, Züge. Erschöpfte Gesichter, erschöpfte Leiber.
Am Hamburger Hauptbahnhof traf ich eines Morgens auf dem Weg zum Zug eine Bekannte. Sie sah elend aus. «Ich kann nicht mehr», sagte sie in ihrer gelben Warnweste. «Ich arbeite hier in der Notunterkunft. Was heisst arbeiten. Ich habe zwölf Nächte durchgemacht. Wir leisten das alles auf privater Basis, solange wir irgendwie stehen können.» Jetzt müsse sie schlafen, sagte sie. Aber die letzten Wochen seien die schönsten ihres bisherigen Lebens gewesen. Sie sei von Herzen dankbar. «Wem?», fragte ich. «Wem?», fragte sie entgeistert zurück.
Mein bester Freund überraschte mich am Telefon mit der Ankündigung, beruflich umzusatteln. Er werde Lehrer. Deutsch für Fremdsprachige. Die Ausbildung sei leider nicht ganz billig, dafür aber kurz, und der angestrebte Beruf sei relativ sicher: «Flüchtlinge wird es immer geben.» Ich erzählte ihm, was ich während der Frankfurter Buchmesse in der Zeitung gelesen hatte: dass der Buchhandel seinen Umsatz überraschenderweise dank den vielen nun so plötzlich benötigten Deutschlehrbüchern gesteigert habe. «Meine Branche ist gerettet!», sagte ich und lachte. «Siehst du, wir alle profitieren», antwortete mein Freund. Kurze Stille. Dann lachte er.
Meine Kinder wollen Weihnachtspäckchen schnüren für Flüchtlinge. Den ganzen Sonntag verbringen wir damit. Meine Kinder zählen sie wieder und wieder. Sie sind unzufrieden. «Das reicht nicht», sagen sie. «Überleg mal, Mama, das reicht doch nie.» Sie sehen mich an. Ich nicke. «Was nun?», frage ich. Sie sehen mich unverwandt an. «Weitermachen!», verlangen sie.
Monique Schwitter
1972 geboren und aufgewachsen in Zürich, lebt Monique Schwitter als freie Schriftstellerin in Hamburg. Sie studierte Theaterregie und Schauspiel in Salzburg und war an zahlreichen Theaterbühnen engagiert. Literarische Veröffentlichungen seit 2002. Ihr Buchdebüt «Wenn’s schneit beim Krokodil» (2005) wurde mit dem Robert-Walser-Preis ausgezeichnet. 2010 wandte sie sich vom Theater ab, um ausschliesslich zu schreiben. Ihr Werk umfasst Romane, Erzählungen und Theaterstücke. 2015 erhielt sie mit «Eins im Andern» den Schweizer Buchpreis.