Felix hatte mich angerufen; seit Isabelle sich vor fünf Monaten in einen Tangotänzer verliebt und Felix verlassen hatte, telefonierten wir wieder häufiger.
Felix war Anfang der Neunzigerjahre mein Lehrer gewesen an der Schauspielschule – er unterrichtete Sprechtechnik –; ein kompakter, leicht untersetzter Vierzigjähriger damals, der ausgesprochen jugendlich wirkte. Ich hatte mich sofort in ihn verliebt; allerdings war ich, wie ich bald feststellte, nicht die Einzige.
Selten fühlte ich mich ihm so nahe wie am Telefon. Ich liebte es, abends in der dunklen Wohnung zu sitzen und seine vertraute Stimme zu hören. Wenn wir uns trafen, fühlte ich mich auf seltsame Weise befangen. Es war, als vermöchten unsere Wörter und Sätze ihre ganze Kraft und Bedeutung erst in der Abwesenheit der zugehörigen Körper zu entfalten.
Ich hatte mich wie immer nach Milena erkundigt, «und deine Tochter?», ohne eine Antwort zu erhoffen, geschweige denn zu erwarten; mehr, damit der Sache Genüge getan war und ich mir nicht irgendwann später vorwerfen musste, meine Freundschaftspflicht vernachlässigt zu haben, die – so sah ich es – verlangte, den anderen auch an unangenehme oder traurige Dinge zu erinnern. Ähnlich empfand es wohl Felix; fast jedes Mal, wenn wir telefonierten, fragte er mich nach dem Fibrom in meiner rechten Brust, das ich seit fünfzehn Jahren hatte; ob es mir Sorgen bereite, ob es gewachsen sei; obwohl ich ihm versichert hatte, dass aus einem Fibrom niemals ein bösartiger Tumor entstehen konnte; das zumindest behauptete meine Frauenärztin.
Milena!, hatte Felix in all den Jahren gesagt, als hätte ich ihn nach ihrem Namen gefragt, und übergangslos von seinen nächsten Projekten erzählt.
Umso erstaunter war ich deshalb, als Felix – um eine Nuance zu laut und zu forsch – sagte: «Milena? Es geht ihr gut. Ich habe ihre Nummer im Internet ausfindig gemacht und sie einfach angerufen.»
Es war seltsam, wie sehr mich diese Nachricht berührte. Ich hatte Milena nie kennen- gelernt, weder damals, als Felix und ich eine Zeit lang so etwas wie ein Paar waren – zumindest für die zwei Tage pro Woche, an denen er in Zürich unterrichtete –, noch irgendwann später, als wir einander zwar nur selten sahen, uns aber dennoch nicht vollständig aus den Augen verloren. Wir trafen uns auf einen Kaffee, wenn er auf der Durchreise von Deutschland nach Italien war, ich besuchte ihn drei, vier Mal im Sommer bei San Remo und einmal in Frankreich. Isabelle war fast immer dabei. Auch sie war seine Schülerin gewesen. Nach drei oder vier Monaten Bekanntschaft hatten sie geheiratet. Die beiden waren ständig unterwegs; ihr dunkelblauer Saab ähnelte denn auch einer komplett eingerichteten Wohnung, während ihre stets wechselnden Wohnungen mich an die Ausstellungsräume von Möbelgeschäften erinnerten. Felix hatte gut ein halbes Dutzend Berufe; er war Schauspieler, Sänger, Dramaturg, Regisseur, Sprecher, Sprecherzieher und Germanist – an einer kleinen österreichischen Universität hatte er gar einen Doktortitel erworben –, verdiente sein Geld aber vor allem mit Seminaren. Seine Hauptklientel waren Ärzte, denen er die Grundlagen menschlicher Kommunikation beibrachte. Er referierte über den Umgang mit der eigenen Macht und der Ohnmacht des Patienten, analysierte und demonstrierte Sprechweisen und nonverbale Botschaften wie Angst oder Wut. Und Isabelle, die mir mit ihrem langen Hals, den kurz geschorenen Haaren und den schmalen, kraftvollen Gliedern bisweilen vorkam wie eine Gazelle, die sich unter die Menschen gewagt hatte, war stets an seiner Seite, verwaltete seinen Terminkalender, spielte die Hauptrollen in seinen Tanztheaterstücken, kaufte ein, kochte und bewunderte ihn.
Sie ist vierundzwanzig, sagte Felix, sie hat eine Ausbildung im Medizinaltechnikbereich gemacht und scheint ganz begeistert davon. Und wo wohnt sie?, fragte ich weiter, obwohl ich es wusste. In Köln; sie sei natürlich überrascht gewesen, fügte Felix nach einer Pause hinzu, habe seinen Anruf indessen nicht als ungebührlich empfunden. Ich staunte über seine gewählte Ausdrucksweise. Das Reden strengte ihn an, vor allem abends, auch wenn Aussenstehenden kaum etwas auffiel, eine leichte Verzögerung vielleicht, eine undeutlich artikulierte Endung.
Der Schlaganfall hatte alles verändert. Nachdem er mehrere Seminare absagen musste, blieben die Anfragen aus. Eine in Aussicht gestellte Professur an einer Kunsthochschule versandete. Als Regisseur hatte er nie wirklich Erfolg gehabt, jetzt war er endgültig aus dem Rennen. Isabelle hingegen drehte einen Kurzfilm. Sie wurde für eine Lesereihe angefragt, sie lernte Tangotanzen, sie verliebte sich. Isabelle war jetzt achtunddreissig; es war absehbar gewesen, dass sich ihre Wege trennen würden. Felix taumelte wie ein angeschlagener Boxer im Ring im Viereck zwischen Verzweiflung, Wut, Eifersucht und
einem noch zaghaften Gefühl der Erleichterung, wenn er daran dachte, dass er Isabelle nun nie mehr beweisen musste, wie jung und dynamisch er noch immer war.
Ich hatte schon länger mit dem Gedanken gespielt, nach Köln zu fahren und Milena einfach von ihrem Vater zu erzählen, den sie, seit sie zwei war, nicht mehr gesehen hatte. In all den Jahren hatte ich mir vorgestellt, wie sie zu einem Schulkind, einem Teenager, einer jungen Erwachsenen heranwuchs. Die Vorstellung betraf weniger ihr Äusseres – ich erinnerte mich vage an ein Schwarz-Weiss-Foto, das Felix damals in seinem winzigen Zürcher Appartement an die Wand gepinnt hatte; ein Kleinkind mit einem weichen Gesicht und schwarz gelockten Haaren – als vielmehr ihre innere Entwicklung, die mir manchmal so deutlich vor Augen stand, als wüsste ich mehr über Milena als über mich selbst.
Schade eigentlich, haben wir kein Kind gehabt, hörte ich mich plötzlich sagen, und da erst fiel mir auf, dass Milena das Band war zwischen uns; das Kind, das ich mir gewünscht, aber nie bekommen hatte; das Kind, das Felix zwar gezeugt, aber bald danach an die Mutter verloren hatte, wie er sagte, die den Kontakt so lange verweigert habe, bis er es aufgab. Felix lachte und ich lachte auch, dann wünschten wir einander eine gute Nacht.
Ruth Schweikert
1965 in Lörrach (D) geboren, ist Ruth Schweikert in Aarau aufgewachsen und lebt heute mit ihren fünf Söhnen und ihrem Mann in Zürich. Mit ihrem ersten Buch «Erdnüsse. Totschlagen» hat sie sich 1994 einen Namen gemacht und diverse Preise gewonnen.