Vielleicht würde ich über die Blaumeise sprechen, vielleicht würde ich eigentlich vielmehr über die Blaumeise sprechen wollen. Vielleicht würde ich drei Tage oder fünf Tage nur von der Blaumeise reden und ich würde dir vielleicht erzählen, dass ihre Flügel lahm geworden sind und unförmig, ihr Gefieder aber blau und gelb. Dass sie anders aussah als früher, anders sprach, aber dennoch, ich hätte sie nicht mit einer anderen verwechseln können.
Auch würde ich wohl den Unterschied spüren, wenn ich mich sofort erinnerte, wie ich früher über die Blaumeise gesprochen hatte. Wenn ich mich erinnerte an ihre Strenge und ihren unbesiegbaren Willen. Mir würde wohl auffallen, dass ich jetzt vorsichtiger über sie sprach, dass ich nach den richtigen Formulierungen suchte, dass ich ihr auch in ihrer Abwesenheit nicht widersprechen wollte, nichts Verletzendes sagen wollte und nichts darüber, ob sie jemals wieder gesund werden würde oder nicht. Ich spürte, dass ich aufhören wollte zu analysieren. Aufhören zu optimieren.
Meine Sprache würde liebevoller sein, nichts würde an das wütende Gedicht erinnern, das ich vor vielen Jahren auf das Papier spuckte, fast gelähmt vor Zorn, aber eben nur fast. Ich erinnere noch zwei schmale Sätze: Wo ist das nächste Glas? Schnaps brennend heisse Träne.
Vielleicht hätte ich dir länger als ein paar Minuten über unser Wiedersehen berichten sollen. Ich kam gar nicht zu diesem Wunsch. Ich konnte diesen Wunsch gar nicht entwickeln, so flogen mir die Nachrichten, die Nachfragen, die Terminvorschläge um die Ohren. Ich hätte länger darauf eingehen wollen, wie es war, und was wir gemacht hatten.
Dass wir nur zu zweit vor das Haus getreten waren. Dass wir eine grosse Runde durchs Hansaviertel gemacht hatten, dass ich immer noch überrascht bin, dass man diese Ecke zum Hansaviertel zählt. Dass wir aber schliesslich vor dem Eingang des Barnstorfer Waldes kehrtmachten. Dass ich noch jetzt froh bin, darüber, dass ich keine Sorge hatte, sie könne mir auf dem Spaziergang kollabieren und ich wüsste nicht, was zu tun sei. (Sicher hätte ich sie aufgehoben und nach Hause getragen.)
Dass ich mit ihr vom Bürgersteig abgewichen war, der hier gesäumt wird von Kastanien und wir ein hohes Tor durchschritten hatten, was ich allein ja nie gewagt hätte. Nicht, dass dieses Tor abgeschlossen gewesen wäre, aber ich kannte ja die Besitzverhältnisse nicht und bin übereifrig zurückhaltend.
Die Blaumeise hatte nur über mein «Dürfen wir das denn?» gelacht und mich hinter sich hergezogen.
Vor uns lag eine grosse Obstwiese umrandet von hohen Eichen und Buchen. Wir pflückten von den Apfelbäumen, deren Äste sich bogen unter der Last, kleine feste tiefrote Früchte, bevor wir uns eingehakt, auf eine Bank plumpsen liessen. Im Halbschatten genossen wir die warme nördliche Herbstsonne. Wir sprachen über die Kinder, die Männer, die Jahreszeiten, die Welt. Die Welt, die sich um uns nun herbstlich zeigte, herbstlich im Licht, das in den Farben der Baumkronen reflektiert wurde.
Wir sprachen über ein Ankommen, ein Dableiben, ein Weggehen, ein späteres Wiederkehren. Sie sagte auch etwas von Müdigkeit. Dann sprach sie von Aufbruch, darüber sprach sie nicht gern, ich konnte es aus ihrer Stimme heraushören. Ich sprach von einem lauten Trubel, vom Wiederkommen sagte ich etwas, weil ich es mir wünsche. Ich sah sie.
Dass sie sich erhob. In die Lüfte. Trotz lahmer Flügel. Fast furchtlos erhob und flog. Davonflog. Den kleinen Punkt sah ich noch. Sah ich noch lang. Mein Auf Wiedersehen! nur leise, sie hörte es nicht. Jetzt nicht mehr.
Ich hätte dir vielmehr erzählen sollen von ihrem Federkleid, in dem ihr Blau hervorstach und das Gelb in der Sonne leuchtete, im Schatten aber ins Grün überglitt. Ihr Federkleid, an dem man ihre Art erkennt, aber dennoch unverwechselbar ihr Federkleid. Von ihren Sätzen und ihren Gesten, davon, wie sie den Arm um mich legte, damit ich mich nicht zu sehr um ihre Zukunft sorgte. Sie hielt mich einen Moment lang im Arm. Vielleicht schützte sie sich so selbst.
Dass zwischen all ihrem Lachen, sehr leise Sätze waren, erst die lauten von der Hoffnung, dann die leisen, die der Angst, aber auch die der Ruhe. Die, einer, die spürt, was kommen mag.
Stattdessen schweige ich. Nicht, dass mir die Worte fehlen. Sie lauern hinter meinen Lippen und drücken sich beim Öffnen des Mundes lautlos durch meine Zahnzwischenräume und die Lücken. Ich schweige, weil ich mich ducke im Strom der Ereignisse. Ich halte meinen Verstand an und besänftige ihn mit zeitgenössischer Lebensweise. Und dennoch: Ich schreibe:
Sah sie nicht mehr. Nicht mehr ihr Kleid. Ihr Kleid, das nun aus Blättern. Sah nicht mehr ihr Kleid aus Blättern, später darunter ihr Knochengerüst. Sah nicht sie. Kein Licht mehr im Schädel hinter den Augen. Sah sie nicht mehr. War sie fort.
Für Nette