Schon das Wort ist mir suspekt: Ruhe Stand; ruhen – stehen, verdoppelter Stillstand. Als stände dann alles still, würde alles ruhen, gäbe es keine Bewegung mehr. Als würde das Leben angehalten. Ab in den Wartsaal.
Warten worauf? Auf einen nächsten Auftrag, auf ein nächstes Projekt ausserhalb der Radioarbeit? Dass wieder Bewegung ins Leben käme? Dass kein Loch entstünde, keine Leere, keine Ruhe?
Fest steht: Mein Vertrag mit der SRG läuft am 31. Oktober 2014 ab. Ich werde AHV-berechtigt und Pensionskassenbezüger. Ich wurde von der Abteilung Human Resources schriftlich informiert, dass mein Versicherungsschutz gegen Nichtbetriebsunfälle mit dem Austrittsalter erlischt und ich somit das Unfallrisiko bei meiner Grundversicherung gemäss KGV einschliessen lassen muss. Dass ferner meine persönliche E-Mail-Adresse bei SRF aufgehoben wird und ich meinen Schlüssel und meinen Personalausweis am Austrittstag abgeben muss.
Angst vor einer Leere? Mich nicht mehr erklären zu können über eine anerkannte Arbeit, ein honoriertes Projekt, ein honorables Produkt? Mir selbst genug sein müssen?
Dir ist es dann sicher nicht langweilig. Du hast doch viele Projekte, die du nach der Pensionierung endlich realisieren kannst. Das höre ich immer wieder. Und man meint damit: Ein Theaterprojekt, ein Manuskript, das aus der Schublade geholt werden kann, ein Kulturanlass, der organisiert werden will.
Nein. Hab ich nicht. Noch nicht. Ich will dieses Loch danach nicht gleich wieder stopfen. Ich freue mich auf die Leerräume in der Agenda nach all den angefüllten Jahren. Platz. Zeit. Lange Weile. Nein, kein Bedürfnis nach vorschnellem Aktivismus.
Zugegeben: Die Versuchung ist gross. Die Anfragen, die Angebote häufen sich, je näher das Pensionsalter rückt. Und schon hab ich da mein Interesse bekundet, dort nicht klar Nein gesagt. Schon sind sie wieder da, die ersten verschämten Einträge in die noch leere Agenda.
Dabei will ich es wirklich: Mehr Zeit haben, mir Zeit lassen, Zeit geben, Zeit nehmen. Wofür eigentlich? Zeit zum Beispiel, in Ruhe ein Kochbuch zu studieren und einzukaufen, nicht nur am Wochenende. Zeit für Besuche, für ausufernde Gespräche bis tief in die Nacht hinein; weil ich weiss, dass ich ausschlafen kann am nächsten Morgen. Zeit, eine Sinfonie in voller Länge anzuhören oder auf CD das grossartige Konzert von Kappeler-Zumthor nachzuhören; bei einem Glas Wein, ohne dabei noch etwas anderes erledigen zu müssen. Zeit für ausgedehnte und spontane Wanderungen mit Marta, auch über mehrere Tage hin. Die Wetterprognosen anschauen, das Hüttenbuch studieren, die Wanderkarte ausbreiten, eine Route festlegen – und los gehts. Oder bei ruhigem See und schönem Wetter dem Bruder ein SMS schicken und eine Stunde später im Doppelzweier über den Sarnersee gleiten. Zeit, unserem Sohn Alban in seinem Buchladen auszuhelfen, dann, wenn er mich braucht. Zeit, ein Kindertheater von Tochter Selina anzuschauen, auch ein zweites Mal. Zeit, unserem Jüngsten Julian nachzureisen, wenn er irgendwo eine spannende Jazzsession hat. Zeit für ein Buch, das nicht «verwertet» werden soll in einem Hörspiel, einem Theater, einer Lesung. Wieder einmal den «Simplicissimus» von Grimmelshausen aus dem Gestell nehmen, oder mich in die wunderbaren Gedichte von Rainer Brambach vertiefen. Das neuste Buch von Eleonore Frey zum Anlass nehmen, ihre früheren Bücher wieder zu lesen. Die Zugreise nach Zürich nicht als Arbeitsweg zurücklegen, sondern als Sechs-Seenfahrt geniessen, als sähe ich alles zum ersten Mal: das Auftauchen des Stanserhorns über dem bewaldeten Felsen am Wichelsee, die wie Seeungeheuer im Wasser liegenden Bäume am Rotsee, das Kreuzen der Fähren zwischen Horgen und Meilen im morgendlichen Gegenlicht.
Zeit haben zum Verweilen. Schauen. Zuhören. Zeit für die leise Poesie des Naheliegenden. Wie kürzlich, als ich mit Marta draussen vor dem Haus sass und zuhörte, zuschaute, wie ein fernes Gewitter sich langsam näherte, wie die dunklen Wolken sich in die Helle des Himmels schoben, wie das leise Grollen immer lauter wurde, wie der Regen einsetzte, auf das Vordach polterte, immer heftiger, wie die Blitze heller und länger wurden; und wie es sich wieder entfernte, der Himmel aufhellte, der nasse Boden zu dampfen begann.
Romantische Anwandlungen? Nein, keine sentimentale Trübung. Aber ein waches Wahrnehmen des ungetrübten Augenblicks. Woher kommt es, dieses zunehmende Bedürfnis nach dem Naheliegenden, Unmittelbaren? Nach verlangsamen, innehalten, vertiefen? Liegt es daran, dass mit dem zunehmenden Alter die Zeit, die vor mir liegt, abnimmt und damit kostbarer wird? Dass das Naheliegende an Bedeutung zunimmt? Dass weniger mehr wird? Nicht mehr die Fülle zählt, aber die Dichte? Das Nahe, Gegenwärtige wichtiger wird als das Ferne, Zukünftige?
Wenn es bei mir so etwas wie eine Veränderung gibt, dann hat sie damit zu tun. Und ich bin darauf vorbereitet. Durch meine jahrelange Arbeit als Hörspielregisseur, beim genauen und wiederholten Lesen eines Textes etwa, beim Entdecken seiner Zwischentöne, beim Herauslesen des Nichtgesagten im Gesagten, beim wachen Hinhören in der Arbeit mit Schauspielern, Musikern, Technikern. Da konnte ich es immer neu erfahren, dieses Aufleuchten des Stimmigen, des Geglückten. Sie hat mich hellhörig gemacht, meine Hörspielarbeit, aufmerksam und wach. Ja. Und ich werde sie vermissen, dann und wann.
Doch bleiben mir die kostbaren Menschen, die ich bei meiner Arbeit kennenlernen durfte. Die Mitarbeitenden, Autorinnen und Autoren, Schauspielerinnen und Schauspieler, Techniker. Sie kann ich immer mal wieder aufsuchen. In Basel oder Zürich. Und dann auch die Sechs-Seenfahrt geniessen auf der Zugfahrt von Obwalden nach Zürich.
Geri Dillier
Geri Dillier, 1949 in Sarnen geboren, ist Hörspiel-Regisseur und -Dramaturg bei Radio SRF. Er studierte Germanistik und Philosophie in Zürich und war seit 1970 als Regisseur und Dramaturg an verschiedenen Theatern tätig. Ab 1979 arbeitete er bei Radio DRS (heute SRF) in verschiedenen Bereichen, seit 1995 fest beim Hörspiel. Im Kanton Obwalden war und ist er als Kulturförderer und -vermittler tätig. Er wurde mit Hörspielpreisen im In- und Ausland ausgezeichnet, 2014 erhielt er den Innerschweizer Medienpreis. Geri Dillier ist verheiratet und Vater von drei erwachsenen Kindern. Er wohnt in Sachseln.