Männer in meinem Alter haben alle paar Jahre Anrecht auf eine Midlife-Crisis. Sonst wäre das Leben ja auch gar zu gleichförmig. Meine vorerst vorletzte ereilte mich vor bald fünf Herbsten, und zwar ausgerechnet in London. Ich sass in einer Wohnung, die mir freundlicherweise eine Stiftung zur Verfügung gestellt hatte, damit ich meinen dritten Roman zu Ende schreiben konnte. Allein, das Unterfangen holperte. Das Werk wollte und wollte nicht vorschriftsgemäss gedeihen. Alles Mögliche lenkte mich vom richtigen Dichten ab: das britische Wetter, der englische Fussball, die bedrohliche Weltlage oder auch irritierende Nachrichten von der anderen Seite des Kanals.
Eine Weile lange bekämpfte ich das aufkommende Malaise mit bewährten Hausmitteln. Ich schluckte täglich österreichisches Johanniskrautöl, schaute nächtens amerikanische Comedy-Serien und bestellte im Morgengrauen bei Amazon gebrauchte französische Puzzles, die friedliche provenzalische Lavendelfelder darstellten oder den schläfrigen Mont-St-Michel im Winter.
Es nützte nichts. Ich war und blieb ausser Form, tigerte nervös durch die Wohnung und spielte allmählich mit dem Gedanken an radikalere Notmassnahmen: Aufgeben, Abreisen, Beruf wechseln – da entdeckte ich auf dem Büchergestell meiner Schreibklause, zwischen klassischen Entwicklungsromanen und veralteten Nachschlagwerken, die wohl früher hier logierende Dichterinnen und Dichter zurückgelassen hatten, ein Radiogerät. Es war ein altmodischer englischer Volksempfänger der Marke «Roberts Radio», Yorkshire. Das Gerät hatte keinerlei Schnickschnack, nichts als einen Drehknopf für «Volume» (inklusive «on/off»), dann drei Drucktasten für UKW, Mittel- und Langwelle sowie einen weiteren Knopf für die Sendersuche, der allerdings, wie ich bald merkte, irgendwie festgeklemmt war. So sehr ich auch das Rädchen nach rechts und wieder nach links drehte, so grimmig ich zwischendurch die Wellenwechseltasten drückte – «Roberts Radio» spielte unverdrossen immer nur: BBC 3.
Anfänglich ärgerte mich dieser Fehler sehr. Ich meine, als europäischer Bewohner des 21. Jahrhunderts bist du halt mittlerweile doch totale, wenn nicht gar totalitäre Wahlfreiheit gewohnt: jederzeit zehn Sorten Tomaten im Coop, hundert mögliche Internetprovider, tausend und eine Feriendestination für unter neunundneunzig Euro… Wie soll einer da plötzlich 24 Stunden am Tag wahllos ein und dasselbe Radioprogramm aushalten? Und dann ausgerechnet den klassischsten aller Klassiksender?! Quasi den Stammvater des Konzertradios, die Urmutter aller Classic-FM-Kinderchen, von Ö eins via SRF, SWR, Bayern zwo, inklusive Espace deux, Rete due und P2 Klassiskt Sverige etc. bis hin zu France musique?! Ausgerechnet den Uralt-Radiodampfer BBC 3, am
30. September 1967 vom Stapel gelassen auf die Radio Waves dieser Welt, übrigens bloss zehn Tage nach dem sagenhaften Kreuzschiff Queen Elizabeth 2 …
Interessanterweise gewöhnte ich mich dran. Am Ende meiner ersten Woche als zwangsbeglückter BBC-3-only-Radiohörer durchschaute ich bereits die Grundstruktur des Programms. Sie war wie in Marmor gemeisselt: Nach sieben Stunden «Through the Night» kommt bis gegen Mittag «Breakfast», naturgemäss gefolgt vom «Lunchtime Concert», dem «Afternoon Concert», einem direkt übertragenen «Evening Concert» – und dann das Ganze von vorn. Unterbrochen wird dieser ewige Reigen höchstens von weiteren Dinosauriern der abendländischen Klassikradiokultur wie «Composer of the Week», erstmals gesendet am 2. August 1943 auf «BBC Home Service», weil es damals ja selbst in England noch keine Spartensender gab. Unnötig beizufügen, dass der «Composer of the Week» ungefähr jede dritte Woche Edward Elgar hiess, meistens im Wechsel mit Benjamin Britten und Bach.
Nach einem Monat kannte ich alle Moderatoren beim Vornamen: Jonathan, Sarah, Donald, Petrow, Clemency (die wir BBC-3-Aficionados zärtlich «Clemy» nennen). Noch vor Weihnachten konnte ich die schottischen Stimmen von den walisischen unterscheiden, ganz zu schweigen von den irischen. Am 4. Januar rief ich erstmals beim Sender an, um beim allmorgendlichen Hörerwettbewerb (es ging um einen Komponistennamen) mitzuraten. Es war ein gutes Gefühl, endlich einer von uns zu sein! (Obwohl die richtige Lösung nicht Elgar war, sondern Britten.)
Als ich meine Londoner Autorenresidenz Anfang Februar wieder verlassen musste, hatte ich meine Lebenskrise vor lauter Radiohören völlig vergessen und das, obwohl ich mit meinem Roman, nun ja, sagen wir mal: nicht ganz fertig geworden war. Seither ist ziemlich viel Wasser die Themse runtergeflossen. Den alten, verklemmten «Roberts Radio» musste ich bei meiner Abreise trotz diebischen Reflexen mit einer Abschiedsträne im Augenwinkel in der Dichterwohnung stehen lassen (für einen nach mir einziehenden Russen, der das Gerät, angesichts der sprichwörtlichen Melancholie seines Landes, sicher auch gebrauchen konnte). Trotzdem habe ich meine damals gefundene Identität als glücklicher, leicht weltabgewandter BBC-3-Listener über den Kanal mitgenommen und diese seither – Webradio sei Dank! – noch weiter perfektioniert.
Denn wie bei jeder Herzensangelegenheit lebt auch das richtige Radiohören am Ende von Ausdauer und einem ausgeprägten Sinn für Details. Zum Beispiel habe ich festgestellt, dass die Nachrichten – no news is good news! – auf BBC Radio 3 nie länger als drei Minuten dauern. Nie! Egal, wie tief rund um den Erdball die Stock markets abstürzen, egal, welche Dumm- oder Derbheiten sich irgendein «Mister President» wieder einfallen lässt – nach unter zwohundert Sekunden ist der Spuk vorbei! Und schon lassen Jonathan oder Sarah oder Donald oder Clemy im Zuge der Weather Forecast einen erfrischenden «drizzling shower» über unserer geschundenen Welt niedergehen oder nötigenfalls auch mal «heavy rains». Und schon fühlt sich meine Seele wieder jung und rein – bereit zum Beispiel für die frühabendliche Wiederholung von «Composer of the Week».
Ich bin schon richtig gespannt! Wer mag es wohl diesmal sein?
Richard Reich
Geboren 1961 im Kanton Bern, aufgewachsen in Zürich, war Sport- und Kulturjournalist bei der NZZ und Tamedia. 1999 gründete er das Literaturhaus Zürich, 2015 gemeinsam mit Gerda Wurzenberger das Junge Literaturlabor JULL. Er hat vier Bücher publiziert, das fünfte lässt auf sich warten.