Ich muss an Loraine Fischers Gerede über Eiweisse denken.
Nichts verstanden; ich habe gar nicht zugehört, habe ihre Lippen betrachtet, die aufgesprungen waren und mich an Loraines Kindheit denken liessen, bei welcher ich allerdings nicht zugegen war. Ein Kind mit grossen, auffälligen Schneidezähnen muss sie gewesen sein, verletzte Lippen, bleich, farblose Wangen, dünne Locken, schwitzende Schläfen, ein Kind, welches es nicht leicht hatte. Loraine fiel auf, ohne zu gewinnen, sie musste hart arbeiten, um zu gewinnen und für sich einzunehmen. Einzelnen Menschen wird sie positiv aufgefallen sein; Loraines Ehrgeiz hatte diese Menschen gepackt. Alle anderen Menschen aber hatte Loraines Ehrgeiz abgestossen.
Loraine sprach über Eiweisse wie von Dingen, mit denen man sich durchsetzt, weil sie überzeugen, sofern man sie richtig erklärt. Es war grauenhaft.
Ich habe ihre farblose Haut erwähnt, ihre Wangen. Sie sind fast bläulich, fast grau. Der Mund, der sich durchsetzen will. Man kann es sehen, sobald man darin das Kind sieht, das zu laut spricht, ungünstig spricht, das man zurückhalten muss, zurückschrauben, das man vergessen möchte auf der Stelle. In Loraines Mund ist es stets etwas rutschig.
Ich weiss, dass Menschen wie Loraine allesamt wie Loraine über Eiweisse sprächen. Eine Art Gewinnsucht, ein hysterischer Durchsetzungswille. Die Eiweisse müssen herhalten für die verletzten Lippen, die auffälligen Schneidezähne, das schwitzende Kind. Die Eiweisse werden wie Kristalle behandelt. Wie kann man derart über Eiweisse reden? Man muss schwer traurig sein. Doch das ist das Verhängnis. Die Eiweisse sind zu Kristallen verhärtet, damit man nicht traurig sein muss. Das Gerede über Eiweisse muss stimmen, damit die Trauer im Berg bleibt.
Jemand, irgendjemand hätte Loraine vor 25 Jahren noch mehr trösten müssen, auf die denkbar nachhaltigste Weise. Ein Mensch mit unerhörter Weitsicht und mit unerhörter Nachsicht hätte Loraines Anliegen verstehen müssen. Es hätte Loraine weicher gemacht, verhaltener, im Sinne eines Geheimnisses, das nicht tangiert werden kann. Leider ist es jenes Insistieren, jenes Schwitzen für Recht, welches die Eiweisse kristallhart macht, sodass sie in kein menschliches Gespräch mehr passen.
Den Eiweissen wären Federn überzuziehen, damit sie fallen wie ein leichtes Bällchen. Sie wären aus dem Zusammenhang zu zerren, auf dass sie grotesk werden, in der Gegend schweben, ganz verlangsamt. Wie Schnee, welcher durch einen bodennahen Wind noch etwas weiterwirbelt.
Loraine macht es nicht gut mit den Eiweissen.
Ich möchte Loraine an den Schultern nehmen und schütteln, damit sie lacht, möglichst grinst und die Arme zu Zeichen irgendeines Mangels formt, indem Loraine sie wild nach oben drückt, dass es ihr den Rücken durchbiegt wie einem tollen Fragezeichen.
Ich kenne eine Simona, die macht es gut, mit den Sprachen, ihrem Lächeln, ihrem Make-up, den kurzen, ein wenig krummen Beinen. Eine Helene kenne ich, die macht es ausgesprochen schlecht mit den Gewerkschaften, nach zwei Sätzen wird man schläfrig.
Loraines Eiweisse verhärten, Helens Gewerkschaften belämmern.
Der jetzige Freund von Loraine Eiweiss ist ein ruhiger Mann Mitte dreissig. Er bewohnt ein nicht sonderlich luxuriös eingerichtetes Studio unter dem Dach. Sommers heiss. Dann trägt er keine Socken. Seine Beine sind schlank und muskulös, seine Zehennägel immer geschnitten. Er ist relativ sportlich. Er besitzt weder Vasen noch Servietten. Sein nächstes Ferienziel heisst Andorra. Und zwar im Frühherbst; Wärme und Abkühlung, beides, sagt er. Er ist ausgeglichen, wahrscheinlich.
Loraine sei ein Vulkan, bemerkte er, als er mich auf Loraine Eiweiss ansprach.
Ich verehre deine Freundin nicht, teilte ich ihm mit.
Da bin ich aber froh, lautete seine Antwort. Sie hatte etwas wie nach einem Bescheid, auf den er seit einiger Zeit gewartet zu haben schien. Er blinzelte vergnügt oder verlegen.
Ich schlug ihm ziemlich forsch auf die Schulter, eine klare Feindseligkeit. Er war selig und lud mich in den Biergarten gleich um die Ecke ein.
Ich schlug natürlich aus. Ich trug kein Unterhemd, bloss ein dunkelblaues, leicht verschwitztes T-Shirt. Meine Arme waren bleich.
Sie sind haarlos. Ich bin vier Jahre älter als er. Ich wirke ärmlich. Ich fühlte mich sehnig und alt. Ich schüttelte den Kopf, errötete. Meine Jeans waren schmutzig, innen um die Aufschläge.
Ich entfernte mich rasch.
Zu Hause legte ich mich hin und schlief ungewöhnlich rasch ein. Traumloser Schlaf. In einem fort allerdings – eigenartig! seelenruhig! unmöglich! – Worte, Worte im Schlaf, folgenden Wortlaut. Gern würde ich hinstehen und ihn vor Loraine Eiweiss aufsagen.
«Einen anständigen Höflichkeitsbesuch abstatten in der Meinung, die bis dato verursachte Schuld an den Gastgebern zu streichen. Den Höflichkeitsbesuch angetreten haben mit dem Resultat, die bis dato verursachte Schuld an den Gastgebern derart aufgefrischt zu wissen, als komme künftig auch ohne Höflichkeitsbesuche stets neue Schuld dazu. Weiteren Besuchen die Höflichkeit nehmen, um die spiralischen Gesetze zu durchbrechen. Einen Besuch ganz unhöflich gestalten aus der Ahnung, dass die bis dato verursachte Schuld an den Gastgebern unmöglich zu streichen ist. Den unhöflichen Besuch recht höflich abgestattet haben mit dem Gefühlseffekt, dass die bis dato verursachte Schuld an den Gastgebern vielleicht längst gestrichen ist.»
Dieter Zwicky
1957 in Mollis GL geboren, studierte Dieter Zwicky evangelische Theologie und lebt heute mit seiner Familie in Uster ZH. Seit 2002 sind im Bilgerverlag Zürich diverse Prosabände und Erzählungen erschienen, in der Edition pudelundpinscher Zürich «Die Höhe des Kopfes über den Augen» (2008) und «Slugo – Ein Flughafengedicht» (2014).