Der erste Tod, den ich so richtig mitbekam, war, als mein Vater eines Samstagmorgens mit einem, in ein Geschirrtuch eingewickelten, toten Häschen ins Wohnzimmer kam und sagte: «Tja, das ist es jetzt wohl gewesen, schade.» Er warf es uns vor die Füsse wie ein motiviertes Labradorbaby, also ein Labradorbaby im Nominativ, sprich, der Vater sah aus wie ein Labradorbaby, mit den kurzen struppigen Haaren, und das Häschen im Gegensatz dazu überhaupt nicht, das Häschen sah eher demotiviert aus und irgendwie ganz leer und unbequem, gefangen in der eigenen Totenstarre, mit viel Angst im Gesicht. «Dabei war Hoppel doch so ein Netter», seufzte der Vater, als könne man von Nettigkeit direkt auf Unsterblichkeit schliessen, und die Mutter schluchzte beim Einatmen und gab beim Ausatmen stossweise von sich, dass man den totenerstarrten, eitertriefenden Nager ja nicht unbedingt in eines der wenigen guten Geschirrtücher hätte einwickeln müssen.
Die Brüder sagten wie gewohnt wenig und nickten einfach, ein philosophisches, langsames Nicken, das von einem fast schon barocken und für Zehn- und Achtjährige sehr frühreifen Verständnis für die Vergänglichkeit herrührte. Nach ein paar Minuten konnte der eine sich dann ein «Sterben ist doch voll schwul» nicht verkneifen, weil er erstens, wie jeder, der mit solch Ausdrücken um sich wirft, schlicht nicht wusste, was das hiess, zweitens aber doch immerhin den leisen Schimmer einer Ahnung hatte, dass das ihm unerklärliche Schockpotenzial der Aussage die Stimmung in der Samstagsstube für eine Sekunde oder zwei aufhellen könnte. Irgendwann wurde es dann langweilig, dem toten und verkrampften Tier beim eigenen Totsein zuzusehen, und wir mussten feststellen, dass die Endgültigkeit etwas vom Uninteressantesten überhaupt ist. Im Halbkreis um die Leiche kauernd fingen wir an zu besprechen, was wir denn jetzt mit dem Nager machen sollten. Der Vater schlug vor, dass wir uns ja als Familie einen Diamanten pressen lassen könnten aus Hoppels Asche, man gönne sich ja sonst nichts, und geimpft sei das Teil ja nie geworden, was uns ungefähr genau etwa die Tierarztkosten eingespart habe, die so ein Diamant-Pressungs-Prozess kosten würde. Ein bestürztes Kopfschütteln der Mutter und die lachende Bemerkung des Bruders, dass Diamanten jetzt aber wirklich super schwul seien; später klapperten wir alle weiteren in der westlichen Welt akzeptierten Varianten ab.
Ein Begräbnis kam nicht infrage, da die Gefahr, dass irgendein Nachbarshund die Hasenleiche ausbuddeln und schänden würde, zu gross und unser Garten auch ohne vermodernde Kleintiere schon zu klein war. Was denn sei, wenn man Hoppel ausstopfen würde, oder besser noch einlegen, wie ein kleines, süsses, pelziges Essiggürkchen, damit man ihn für immer in der Stube anschauen könnte, fragte der Vater. Ich warf ein, dass ich in meinem «Was ist Was»-Buch gelesen hätte, dass die alten Ägypter damals ihre Katzen einbalsamiert hätten und ihnen sogar ganze Kirchen bauten. Die Mutter sagte nur Tempel, Tempel heisse das, nicht Kirchen, und dass sie als Haupt-Ausmisterin des Stalls ja wohl immer noch das letzte Wort habe und so ein mumifizierter toter Scheiss-Rammler ihr sicher nicht ins Haus käme, weil sie ja dann doch immer nur die Einzige wär, die ihn entstauben würde und putzen. Und überhaupt, nur weil das mal irgend so ein reicher Nordafrikaner mit seiner Mieze gemacht habe, heisse das noch lange nicht, dass sich der Prozess auch für Familienhasen eignen würde. So.
Der Vater unterstützte sie dann, teils, weil er es so wollte, und teils, weil er sich natürlich immer noch ein bisschen schlecht dafür fühlte, ausgerechnet das gute Geschirrtuch der Schwiegermutter so verschandelt zu haben. So ein toter Hase ist ja schliesslich kein Jesus, den man einfach so ruckzuck aufs nächste billige Leintuch knallen kann, nur um das dann wieder teuer an die Kirche zurückzuverkaufen. «Eure Mutter hat recht, Mumifizierung ist nichts für Haushasen», stimmte der Vater der Mutter zu, mit einer Katze könne man das eben machen, Katzen hätten im Gegensatz zu Hasen eben Stil, und Stil gehe über die Grenzen des Lebendigseins hinaus. Stil sei all das, was ein Hase eben nicht habe. Stil sei ein elegantes Strecken auf der Badezimmermatte in den ersten Strahlen der Morgensonne. Stil sei, am Futter zu schnuppern, um dann spitzohrig zu entscheiden, dass das nichts für einen sei, ja, Stil sei genau der Blick, mit dem ein Kater genau die Haare auf den Teppich kotzt, die er sich eine Minute vorher noch vom eigenen Sack geleckt hat.
Das Aufprallgeräusch von Hoppels kalten Füssen auf dem Containerboden der Kadaversammelstelle Dielsdorf, Zürcher Unterland, ein paar Stunden später erdete uns dann alle wieder und brachte uns – was man ja nicht von vielen Geräuschen jenseits von Kirchenglocken behaupten kann – als Familie ein bisschen näher zusammen. Die Mutter zahlte die Gebühr, Kleintiere bis fünf Kilogramm, acht Franken fünfzig, der Vater gab ihr einen Kuss auf die Lippen und sagte: «Ja, Schatz, und aus dir machen die Kinder dann aber mindestens mal einen Diamanten, denn für uns bist du halt immer noch die Buslä mit dem meisten Stil.»
Hazel Brugger ist 1993 in San Diego, Kalifornien, geboren. Aufgewachsen ist sie in Zürich. Die Philosophiestudentin tritt regelmässig mit ihren bissigen Texten auf Poetry-Slam-Bühnen im In- und Ausland auf und sorgt über die Slam-Szene hinaus für Aufsehen. Hazel Brugger ist amtierende Schweizer Meisterin im Poetry Slam und lebt in Winterthur.