Pflücke mir doch wenigstens ein kleines Stückchen von deinem lieben Moskauer Frühling, schreib mir, was dein Herz macht und wie es deiner Arbeit geht. Ich weiss, wie – berechtigt – geizig du mit deiner Zeit und dementsprechend mit Briefen bist, aber schreib mir trotzdem ein bisschen. Ich bin doch auch fast ein Roman (und ein ausgesprochen langer, langer …), ich kann doch nicht ein ganzes Leben lang ein Brockhaus-Dasein führen, schreibt Ariadna Efron im Frühjahr 1953 aus Turuchansk an den Freund und Dichter (und nachmaligen Nobelpreisträger) Boris Pasternak. Auch dieser Brief ist von der Zensur mitgelesen worden.
Ariadna Efron hat als junge Frau Kunst und Kunstgeschichte erst studiert, dann unterrichtet, sie hat sich schriftstellerisch und grafisch betätigt. In ihrem letzten Lebensabschnitt wird sie sich ganz dem literarischen Nachlass ihrer Mutter widmen, der russischen Dichterin Marina Zwetajewa. Dazwischen hat Ariadna Gefängnis, Straflager und Verbannung in Sibirien zu erleiden. Durch die Schläge der Gulag-Schergen in einem der Lager stirbt ihr ungeborenes, einziges Kind.
Sie selbst ist das Erstgeborene, ein Mädchen mit auffällig blauen Augen und einem verständigen Mondgesicht, ein Kind für eine Mutter, die – so hat Ariadna damals notiert – gar nicht wie eine Mutter ist. Tatsächlich hält Marina Zwetajewa Kinderspiele für ihre vielfach begabte Tochter für zu gewöhnlich, dichten soll sie. Sie dichtet. Anstelle der Puppenwelt tritt aber auch der Ernst des Lebens, und mit ihm Angst und Armut, der Auszug aus Russland, die Aufenthalte in Berlin und Prag und Paris und Roscoff in der Bretagne. Mal riechen die Augenblicke nach korsischem Jasmin, mal nach Petroleum oder bretonischem Brot, dann wieder nach Fisch, Kot, Schweiss. Mal ist da ein Wolfsfell vor einem niederen Ruhebett, und mal rinnt einem der Sand durch die lockere Faust. Als ich klein war, schreibt Ariadna, beunruhigte mich das Gefühl, dass es keine Zeit gibt: Bis Mitternacht war Abend, von Mitternacht an war Morgen – wo blieb da die Nacht? Jetzt aber ist Mittag Kindheit und von Mittag an Alter. Wo ist das Leben? Begreifst du irgend etwas von meinem schlaftrunkenen Gestammel, Boris?
Zu bedenken ist einiges, zu begreifen fast nichts. Nachdem Ariadna acht Jahre in sowjetischen Gefangenenlagern verbracht hatte, ist sie 1949 erneut verhaftet und zu «lebenslänglicher Verbannung» verurteilt worden – jeweils aus Gründen der Sippenhaft, als Tochter nämlich von Sergej Efron, der während der Revolution zur Weissen Armee gehört hatte und später der Spionage verdächtigt worden ist.
In der Gegend um den Jenissej werden bis in die Gegenwart hinein Strafkolonien geführt. Der Wasserspiegel des auftauenden, alsbald Eisplatten türmenden und reissenden Jenissej erreicht bei Turuchansk einen Pegel von bis zu zwanzig Metern über normal. Zur Zeit des vierwöchigen Sommers entstellen Mücken die Menschen. Im Herbstmonat verirrt man sich auf der Pilz- und Heidelbeersuche in der Taiga, die Wildgänse und Kraniche fliegen davon, der letzte Dampfer fährt ab. Und der Schnee fällt. Und die Kälte wird unerbittlich. Bei minus fünfzig Grad verbrennen die Holzscheite einem die Finger, sobald man sie mit blossen Händen anfasst. Jeder Schritt fordert das Äusserste. Nur die Sterne mit ihrem schillernden Gefieder vermögen eine Art Trost zu spenden.
Vierzehn bis sechzehn Stunden täglich muss Ariadna der ins Leere laufenden Arbeit im Kreiskulturhaus nachgehen. Daneben sollte sie die persönliche Ernte einsalzen, einlegen, trocknen, einkochen, aber der Zucker ist zu teuer, Pferdemist muss eingesammelt, Baumaterial für den Windfang der Hütte mehr oder weniger legal beschafft werden. Wasser ist vom Fluss zu holen, zwanzig Ster Holz sind zu schichten, Pfade durch die ständig hoch anwachsenden Schneewehen zu schaufeln. Gut, wenn das Zweizimmerbretterhäuschen, das Ariadna mit einer Frau teilt, auf warme null Grad Celsius eingeheizt werden kann.
Was sie und andere durchlebt haben, vermag Ariadna nicht zu erzählen. Manchmal schieben sich Gesichter vor. Von Sergej Efron, Marina Zwetajewa, Irina Efron und Georgij Efron, genannt Mur: Ariadnas Vater, der erschossen wurde; ihre Mutter, die sich erhängte; ihre Schwester, die als Kleinkind in Moskau verhungerte oder an Grippe starb; ihr Bruder, der im Exil zur Welt kam und im Krieg fiel.
Wenn Boris Pasternak Zeichen schickt (einen Brief, Manuskriptteile von Doktor Schiwago oder auch ein wenig Geld), dann fällt mildes Licht ein. Aber von Lichteinfall zu Lichteinfall muss Ariadna sich selbst die Treue halten, bescheiden sein und eine kamelhafte Ausdauer an den Tag und an die Nacht legen. Ich schreibe dir nachts. In einem vor Müdigkeit nicht mehr nüchternen Zustand. Ohne jegliches Licht. Boris, ich bin sehr glücklich, dass ich zu derselben Zeit mit dir lebe und dir schreiben und alle zehn Jahre einmal mit dir sprechen kann – das ist einer meiner wenigen, aber unbezweifelbaren Vorzüge gegenüber den Nachfahren, die von unseren Tagen und Menschen nur von Büchern und Denkmälern etwas wissen werden. Wir bringen so viel unter, wie man uns nahm und wie man uns gab. Von unseren Begegnungen ist mir jede die liebste. Einmal stand auf deinem Tisch eine ungewöhnlich schöne blaue Tasse, die mich schlagartig in die Kindheit versetzte – wenn es in meiner Kindheit eine Farbe gegeben hat, dann war es diese blaue, porzellanene.
1955 wird Ariadna «in Ermangelung eines strafbaren Tatbestandes» rehabilitiert. Als der Jenissej Ende Mai auftaut, reist sie flussaufwärts nach Moskau.
Die Briefzitate stammen aus dem vergriffenen
Band «Ariadna Efron. Briefe an Pasternak»
(Insel Verlag 1986).
Katharina Geiser
Katharina Geiser wurde 1956 in Erlenbach ZH geboren. In Zürich hat sie Germanistik studiert und als Deutschlehrerin gearbeitet. Heute unterrichtet sie Kinder anderer Kulturen und schreibt. Für ihren letzten Roman «Diese Gezeiten» (Jung und Jung 2011) über zwei Künstlerinnen im Widerstand wurde sie mit dem ZKB-Schillerpreis ausgezeichnet. Sie hat drei Kinder und lebt in Wädenswil ZH. www.katharinageiser.ch