Das Techniktagebuch ist ein Blog über unseren Alltagstechnikgebrauch und seine Veränderungen. Ich habe im Januar 2014 damit angefangen, weil ich bedauerte, dass man so schnell vergisst, was man gerade wie macht und vor allem warum. Noch vor kurzer Zeit hatten alle die gleichen Bahntickets, jetzt sieht man in den Zügen alle Varianten vom klassisch am Schalter gekauften über das Automatenticket bis zum Barcode auf dem selbst ausgedruckten A4-Blatt oder in der Smartphone-App. Aus welchen Gründen wir uns heute für eine bestimmte Ticketform entscheiden, und warum wir die anderen Optionen unpraktisch finden, wird schon 2016 schwer zu rekonstruieren sein. Genau wie die Argumente, mit denen man eigentlich gegen Facebook war, und die Gründe, warum man es trotzdem nutzte. Wie Alltagsgeräte vor 10 oder 20 Jahren aussahen, ist bestenfalls im Hintergrund von Familien- oder Urlaubsfotos dokumentiert. Wenn man nicht ab und zu was bei einem Internetauktionshaus verkauft hätte, gäbe es gar keine Fotos von der jüngeren technischen Vergangenheit.
Als ich bei Twitter auf das Techniktagebuch hinwies, antwortete jemand: «Interessant, aber am Ende langweilig.» – «Ich glaube ja auch nicht, dass das jetzt interessant ist», schrieb ich zurück, «aber in 5, 10 oder 50 Jahren dann schon eher.» Um weitere Kritik abzuwehren, machte ich aus dieser Behauptung gleich den Blog-Untertitel: «Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in 20 Jahren!» Wie sich herausstellte, wirkt so eine Lizenz zur Langweiligkeit befreiend. Auch schüchterne Leute lassen sich damit zum Schreiben bewegen, und so hat das Techniktagebuch mittlerweile um die 250 Autorinnen und Autoren.
Da man Beiträge rückdatieren kann, reicht die Chronik bis ins Jahr 1943 zurück: Der Grossvater einer Autorin schrieb damals zum ersten Mal mit Schreibmaschine nach Hause: «Du hast doch nichts dagegen? Oder doch? Es gibt Menschen, die mit Maschine geschriebene Briefe als beleidigend empfinden. Meine Ansicht hierüber ist etwas modernisiert.» Dank dieser Rückdatierungsmöglichkeit gibt es schon zwei Jahre nach Blog-Gründung 20 Jahre alte Beiträge, an denen sich die Behauptung des Untertitels überprüfen lässt.
Ein Grossteil der Beiträge aus dem Jahr 1995 beruht auf E-Mails, die ich damals ausgedruckt habe. Ich wusste noch nichts von anderen Archivierungsmöglichkeiten, und wahrscheinlich ist das ganz gut so, denn diese frühen Papierjahre sind vollständig erhalten, während mir zwischen 1998 und 2006 einiges durch versterbende Festplatten abhandengekommen ist. In einer der ersten E-Mails an meinen Freund beklage ich, «dass man so schweizerisch schreiben muss, damit am Ende nicht alles voller Sonderzeichen ist». (Umlaute und das ß pflegten beim Mailtransport in Stücke zu fallen.)
Erhalten ist auch die erste E-Mail meines Bruders an mich: «sei gegruesst, am anfang eines neuen zeitalters. weil ohne email haett ich dir wahrscheins ja keinen brief geschrieben, sondern telefoniert», teilt er mir mit. «es waer auch nett, wenn du eine email bestaetigung schreiben koenntest, damit ich weiss, ob ich dich nicht doch noch anrufen sollte.» Wir trauten dem neuen Zeitalter offenbar noch nicht so ganz.
Ich antworte ihm: «Viel praktischer als faxen! Kostet aber auch Geld, wenn man immer nachschauen muß.» Dass das ß den Transport nicht überstehen würde, hatte ich zu diesem Zeitpunkt noch nicht herausgefunden. Mit «kostet aber auch Geld» meine ich, dass ich jedes Mal für 23 Pfennig mit meinem Modem über die Telefonleitung die Freie Universität Berlin kontaktieren musste, um herauszufinden, ob ich neue Mails hatte. Ohne diese Belege hätte ich vergessen, dass E-Mail keineswegs sofort als begrüssenswerter Fortschritt in unser Leben trat, sondern als Alternative zu Kommunikationswegen, die auch nicht schlecht und sogar preisgünstiger waren. In meinem Fall war das das Verschicken von in Word verfassten Briefen mit Hilfe einer in den Computer eingebauten Faxmodemkarte.
Die Frage, ob man überhaupt 20 Jahre warten muss, bis die langweilige Technikgegenwart zur interessanten Technikvergangenheit geworden ist, beschäftigt mich nicht mehr so sehr wie zu Anfang. Das Beobachten verändert nicht nur das Beobachtete, sondern auch die Beobachterin, und durch die Chronistentätigkeit haben sich meine Langeweilekriterien verschoben. Fängt man erst einmal an, genauer hinzusehen, wird fast alles interessant. Wer nutzt eigentlich die Tischchen auf Flughäfen, an denen man Internet gegen Münzeinwurf bekommen kann? (Niemand.) Können Kinder die in Bilderbüchern dargestellten technischen Geräte der jüngeren Vergangenheit richtig deuten? (Eher selten.) Warum ist es in der Schweiz so schwierig, eine SIM-Karte zu kaufen? (Weil Ausweisdaten aufgenommen werden müssen und Kioskbetreiber darauf keine Lust haben.)
Ausserdem stellte sich heraus, dass die anderen Autorinnen und Autoren keineswegs dieselbe Gegenwart wie ich bewohnen. Zum Teil bin ich es, die in der Vergangenheit lebt: Alle Beiträge über Spielkonsolen und Autos stammen für mich direkt aus der Zukunft. Manchmal halten sich die anderen bereits in der Zukunft auf, vor allem, wenn sie von der Situation in den USA oder den Niederlanden erzählen. Oder auch von der Schweiz, wo es Selbstscankassen in allen Supermärkten und funktionierendes Internet auf Bahnfahrten gibt. Meistens aber schreiben wir Berichte aus Paralleluniversen der Gegenwart. Die einen sind am Handy telefonisch nicht zu erreichen, weil sie es nie einschalten und meistens gar nicht wissen, wo es steckt. Die anderen sind am Handy telefonisch nicht zu erreichen, weil sie nicht einsehen, wozu man sich so ein Gerät ans Ohr halten soll. Wo es ist, wissen sie dafür ganz genau: in der linken Hand.
Das Jetzt aus dem Blog-Untertitel existiert nicht. Der Grossvater, der sich fragt, ob die Adressatin seines Briefs die Schreibmaschine als beleidigend empfinden wird, lebt in derselben erweiterten Gegenwart wie die Autorin, die das Holz für ihre ofengeheizte Wohnung im Internet bestellt. Der Untertitel müsste also lauten: «Ja, jetzt ist das alles, wenn man genauer hinsieht, gar nicht so langweilig. Und in 20 Jahren vielleicht auch nicht!» Wir bleiben aber erst mal bei der bisherigen Version. Sie ist weniger erklärungsbedürftig.
Kathrin Passig
Die 1970 geborene deutsche Schriftstellerin schreibt ins und übers Internet. Im Jahr 2006 gewann sie den Ingeborg-Bachmann-Preis. Passig bezeichnet sich als «Sachbuchautorin und Sachenausdenkerin».
Blog: techniktagebuch.tumblr.com