Die Hochzeit der Tochter eines befreundeten Ehepaars war die erste grössere Versammlung, der ich seit meiner Scheidung beiwohnte. Das letzte Dreivierteljahr war eine Zeit der Arbeit gewesen: in der neuen Singlewohnung übersetzte ich aus dem Englischen ein Werk, mit dem man sich sehr lange beschäftigen konnte. Nun, wieder in die Welt hinaus getreten, blendete mich die Sonne. Ich hatte mich für ein bewährtes, tailliertes Jackett entschieden und die nackten Füsse kühn in weiches Leder versenkt.
Katrin, so hiess meine Ex-Frau, sass in diplomatischer Distanz zu mir an einem der vorderen Tische. Sie trug ein olivgrünes, flatterndes Irgendwas und einen algengrünen Hut, der so schräg auf dem Kopf sass, dass er gerade nicht hinunterfiel. Diese modische Verkrümmung, die offensichtlich einen Aufbruch signalisieren sollte, war mir unerklärlich, hatten wir uns früher doch gemeinsam über solche Vögel lustig gemacht. Neben ihr, aus der ein grüner Wellensittich oder eine mir unbekannte tropische Art geworden war, gab es noch jene Dame Ende fünfzig, die ein Kleid mit abgebildeten Palmen trug, das in Kombination mit ihrer konvexen Nase einen Papagei aus ihr machte, der munter Phrasen drosch. Eine dünne Frau war fast ganz in Weiss gekommen; die Hose in Karottenform betonte die schlanken Fesseln und die winzigen Füsse, die in lachsfarbenen Schuhen steckten. Muss ich erwähnen, dass ihr weisser Hut an eine bekannte Pralinenwerbung erinnerte? Auffallend waren der aufgetragene korallenrote Lippenstift und die sonnenverbrannte Nase; sie trug eine schwarze Handtasche. Ich hatte noch nicht entschieden, ob sie ein Storch oder – aufgrund der Unterseite ihres Kinns – ein Pelikan war.
Katrin und ich hatten das befreundete Ehepaar, Ilse und Frank Hübner, zu Studienzeiten kennengelernt, und obwohl wir im Laufe der Jahre den Kontakt hielten, war die fortschreitende Entfremdung offensichtlich. Während Katrin eine eigene kleine Firma aufbaute, die Praktikumsplätze in exotischen Ländern vermittelte, und unsere Ehe kinderlos blieb, arbeiteten beide Hübners seit vielen Jahren beim Arbeitsamt, wo sie wohl bis zur Rente blieben und an jedem Monatsende mit der stumpfen Konstanz von Wasserträgern weiter ihr Bankkonto mit Geld fluteten, während ihr Geist immer mehr verdunstete und ihre Psyche zunehmend mit neurotischen Ticks beschäftigt war. So pflegten sie die Innen- und Aussenbereiche ihres Reihenhauses mit einer Akribie, die jeden Seelendoktor stutzig werden liess.
Die erst 22 Jahre alte Sophie, die nun heiratete und der wir Jahr für Jahr ein Geburtstagsgeschenk gemacht hatten, trug ein klassisches, hässliches Hochzeitskleid, das mehrere tausend Euro gekostet hatte und wie ein geschmackloser Vorhangstoff verziert und aus Polyamid war. Sie konnte sich darin kaum bewegen, geschweige denn sich normal hinsetzen, was diesen glücklichsten Tag im Leben quälerisch unbequem machen musste.
Der Bräutigam, ein stämmiger, recht grosser Mann, der in derselben Bankfiliale wie die Braut arbeitete, trug einen barocken Anzug, der ihn in einen herrlichen Königspinguin verwandelte. Die 14-tägige Hochzeitsreise, die übermorgen begann, führte die beiden um den halben Planeten, wobei – so schien es fast – keine Paradise-Beach, keine Insel, die man für sich allein haben konnte, keine Luxus-Wellness-Oase, in denen wohlwollende Asiaten zu günstigen Preisen verwöhnten, ausgelassen wurde.
Ich hatte den zweiten Gang des Abendessens gerade beendet, als der wedding planner, eine lächelnde Frau um die 30 mit Rundungen, aber ohne Ehering, sagte, wir sollten uns zum nächsten Spiel versammeln. In der Hand hielt sie zwei Hula-Hoop-Reifen.
Braut und Bräutigam mussten je einen Vertreter wählen, der den Reifen um die Hüfte schwang. Zwei Männer in schrecklich konformen Anzügen, von denen die oberen äusseren Teile entfernt worden waren, traten gegeneinander an, erwiesen sich jedoch als unfähig, den Ring länger als eine Sekunde in der Luft zu halten. Nach einem neuerlichen Debakel mit zwei Damen wurden die Jüngste, ein etwa 15-jähriges Mädchen, sowie eine dreimal so alte, maskulin schlanke Wasserstoffblondine bestimmt, die auf ihren hohen Stöckelschuhen so unsicher ging wie ein ungeübter Transvestit. Während auch sie sich als völlig unfähig erwies, schwang die 15-Jährige mit minimalen Bewegungen den Reifen beliebig lang um die Hüfte.
Da es so einfach schien, wenn man nur den Trick kannte, fingen immer mehr Erwachsene Feuer und versuchten eine sportliche Kooperation mit diesem Reifen, während sich der andere noch immer um den straffen Bauch des Mädchens drehte. Alle scheiterten; da konnten sie ihr Fettgewebe noch so engagiert nach vorn und nach hinten werfen. Auch Katrin schaffte es nicht.
Schliesslich zog ich mein Jackett aus, dessen Stoff längst an manchen Stellen glänzte, und ich stellte mich neben das Mädchen, das, ohne müde zu werden, mit ihrem Hüftschwung den Reifen dirigierte und mich verwirrte.
Kurz besann ich mich auf sportliche Erfolge in Kindheit und Jugend und auf sexuelles Geschick in späteren Jahren, dann – nach einer schmerzhaften Drehung über den Hüftknochen – krachte der Reifen zu Boden. Beim Aufheben sah ich, dass meine Beine über den Knöcheln an jene eines Endfünfzigers mit einer Vorliebe für Rotwein erinnerten. Ich versuchte die harmonische Vereinigung mit dem Reifen mehrere Minuten, bis ich mir mit einem ironischen Blick zu dem Mädchen eingestand, dass etwas unwiederbringlich verloren war.
Roman Graf
Roman Graf wurde 1978 in Winterthur geboren und lebt heute in Berlin. Nach einer Lehre als Forstwart arbeitete er als Behindertenbetreuer und Journalist, studierte einige Semester Publizistik und absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Der Autor hat Prosa und Lyrik veröffentlicht. Zuletzt ist sein Roman «Niedergang» erschienen, der 2013 für den Schweizer Buchpreis nominiert war.