Ich habe lange nichts mehr von Iryna gehört. Sie ist mit ihrem Sohn aus Lemberg nach Kiew gefahren, um auf dem Maidan zu demonstrieren. «Man kann doch nicht einfach von ferne zuschauen, wenn andere frieren und ihr Leben riskieren.» Mutig, dachte ich. Und wenn sie von Polizisten überrannt werden? Und wenn dem Sohn etwas zustösst? Er ist siebzehn, Einzelkind. Schon lange lebt er allein mit der Mutter und Grossmutter, denn der Vater ist tot. Beim Baden ertrunken, ein plötzlicher Herztod, irgendwo in den Karpaten, mit fünfundvierzig. Dabei hatte er noch viel vor.
Die Zeilen drängten aufs Papier – er war Dichter, ein unerschrockener Mensch, der sich die Orange Revolution grellorange und siegreich wünschte, was die Politiker versauten. Ja, versauten, dieses korrupte Pack. «Weinen ist lächerlich, lachen ist traurig», schrieb er, und: «Alles missbilligen ist auch echt billig». Er litt an Platzangst. In dunklen Momenten notierte er: «Ich bin nicht für alle da. Ich bin nicht für jedermann da. Ich bin nicht für den einzigen da. Ich bin nicht mal für mich selbst da. Ich bin nicht da.» Als träumte er vom Verschwinden. Aber da war die Frau, der Sohn, dem er ständig SMS schickte, er wurde gebraucht, er durfte nicht abhauen. Dann entschied eines Tages das Wasser. Schmerzlos, und weg. Das heisst, schmerzlos war der Abgang für ihn, nicht für die anderen. Die fassungslos zurückblieben, schockstarr für lange. Plötzlich bist du Witwe, plötzlich ein im Stich gelassener Sohn, plötzlich ein Freund, der überflüssig geworden ist. Eine Gemeinheit, wenn es nicht tragisch wäre. Doch mit wem rechten, hadern?
Die Mutter beobachtet, wie das Wort Papa aus dem Repertoire ihres Sohnes verschwindet. Ein Nichtwort. Wie sie selbst einen Bogen um das Geschehene macht. Das Vermisste wird zur Tabuzone, der Verstorbene übersiedelt in die tiefste Kammer ihres Innern. Dort hält sie ihn fest und lässt ihn nicht raus. Dazu braucht es Verstellung, die sie sich antrainiert. Sie weiss, sie darf sich nicht gehen lassen. Sie spielt die Tapfere. Erzählt ihren Studentinnen von Ingeborg Bachmann und schleppt sich mit schweren Einkaufstaschen nach Hause. Das Leben gleicht einer fühllosen Mechanik. Und Funktionieren ist alles. Damit der Sohn ordentlich aufwächst und die Rentnerin-Mutter ihre Ruhe hat und alle Pflichten erfüllt sind. Aber pass auf, dass sie dir am Markt keine faule Ware andrehen, dass du dir auf den eisigen Strassen nicht das Bein brichst. Lemberg ist nicht Paris. Manchmal denkst du, es liegt am Arsch der Welt, obwohl die Oper der von Wien und Zürich gleicht. Jaja, das Kakanische ist nicht zu übersehen, aber mit Nostalgie kommst du nicht weit. Wien ist irgendwo, jenseits von Grenzen und Möglichkeiten, die hausgemachte Scheisse aber erfordert deine ganze Energie. Denn du musst überleben, auch wenn du lieber leben würdest, einfach so. Mit etwas Freude und Tand, um nicht zu sagen Tanz. Vergiss es. Die Zeit zerrinnt, kein Mann schaut dir nach, als wärst du nicht eine Frau, sondern irgendwas. Und auch du weisst nicht mehr, was ein Mann ist. Ein Grab, wenn überhaupt.
Über Wasser hält der Sohn. Ein stiller Junge, der liest und sich in Physik vertieft. Die Mutter streichelt ihm manchmal über den Kopf, er lässt es geschehen. Ein Blondschopf, anders als sein Vater. Und kein Sturmunddränger. Sie wüsste gern, was in ihm vorgeht. Als wäre Lemberg ein Lehmberg, muss sie ständig graben, um zu ihren Nächsten vorzustossen. Das Schweigen erstickt sie. Das eigene und das fremde. Wenn sie nicht weiter weiss, schlägt sie dem Sohn einen Spaziergang vor oder eine Fahrt ins Freie. In der Natur lenken sie sich ab. Studieren Vögel, picknicken am Waldrand. Gönnen sich ein Eis im Gasthof an der Busendhaltestelle. Fussballspiele kommen nicht in Betracht, der Sohn mag sie nicht. Darin gleicht er seinem Vater. Aber sich einen Film anschauen, das schon. Von Zeit zu Zeit zu dritt, mit der Oma. Nur bitte keine blutrünstigen Schiessereien. Sagt die Oma.
Jetzt aber fliesst plötzlich Blut. Auf dem Maidan, in Kiew. Sie starren auf den Bildschirm, sie sehen junge Männer, die andere junge Männer niederknüppeln. Geschrei, Hilferufe, Schüsse. Die Wirklichkeit bekommt ein blutiges Gesicht. Iryna spürt, wie sie ihre Beherrschung verliert. Schmerz und Schrecken erfassen sie. «Schweinehunde!», schleudert sie in den Raum. Der Sohn zuckt zusammen. Dann sitzt sie die ganze Nacht am Computer. Bilder und Mails brechen über sie herein. Freunde berichten über die Vorfälle, die Stimmung ist explosiv. Doch der Wille der Demonstranten ungebrochen. Jetzt, flüstert Iryna, jetzt oder nie. Und hört die Verszeilen ihres toten Mannes: «Ich bin so kalt-grimmig / strahle den Schüttelfrost aus / erbreche das Gesprochene / fast.» Andrij. Im selben Moment fängt sie zu schluchzen an.
Als wäre ein Bann gebrochen. Als wäre sie aus der Einsamkeit herauskatapultiert worden. In einen Raum geteilter Solidarität. Die Schritte machen plötzlich Sinn, die allerkleinsten. Und zum ersten Mal seit Jahren empfindet sie Freude. Es ist keine Frage, wo sie hin muss: auf den Maidan, zu den andern. Damit sie zusammen und viele sind, damit sich etwas ändert in diesem gebeutelten Land, damit der Verrat der Regierenden endlich ein Ende hat. Und der Sohn kommt mit, aber sicher. Ohne Serhij bricht sie nicht auf. Die Zukunft gehört ihm, ihrem Blondschopf. Soll er wissen, wo er hingehört.
Und sind gefahren, und haben Zuversicht gesät, und sind zurückgekehrt. Hoffentlich heil. Bitte Nachricht, Iryna! Bin besorgt.
Ilma Rakusa
Ilma Rakusa verbrachte ihre Kindheit in Budapest, Ljubljana und Triest. 1951 liess sich die Familie in der Schweiz nieder. Von 1965–1971 studierte sie Slawistik und Romanistik in Zürich, Paris und St. Petersburg und schloss mit einer Dissertation ab. Sie ist als Übersetzerin, Publizistin und Autorin von Lyrik-, Erzähl- und Essaybänden tätig. Für ihr Buch «Mehr Meer» erhielt sie 2009 den Schweizer Buchpreis. Kürzlich ist ihr Erzählband «Einsamkeit mit rollendem ‹r›» erschienen. Ilma Rakusa lebt in Zürich.