Und leise fiel ein Blatt vom Baum. Das ist der erste Satz. Sabeth möchte das Buch am liebsten gegen die Wand schmettern. Wie sonst, wenn nicht leise, soll denn ein Blatt vom Baum fallen? Sollte es knallen, wenn es sich löst? Sollte es krachen, wenns zu Boden fällt? Wie schwer, bitte sehr, ist ein Blatt? Immer dieses bisschen Dichterkacke.
Sabeth darf das Buch nicht gegen die Wand schmettern, darf es auch nicht heimlich in den Papierkorb gleiten lassen. Sie darf es nicht mal laut zuknallen. Als Mitarbeiterin der Bibliothek darf sie das nicht. Bücher sind zu respektieren, sind Kulturgut, aus den Tiefen von Geist und Seele von Menschen für Menschen geschöpft. Affen lesen nicht, schreiben nicht, dichten nicht, wenn sie fallende Blätter sehen, sehen sie fallende Blätter, Punkt.
Immer, immer hat Sabeth gelesen. In Sabeths Familie war das Lesen völlig selbstverständlich. Man kaute, bevor man runterschluckte, man zog die Schuhe aus, bevor man ins Bett stieg, man nahm ein Buch zur Hand, bevor man sich setzte. Vater las, Mutter las. Darum hat Sabeth jetzt diesen Namen, den sie als Kind nicht mochte. Sabeth hiess die junge Frau in Max Frischs «Homo Faber». 1957 kam das Buch heraus. 1958 kam Sabeth zur Welt. Jetzt ist sie 56, und seit kurzem findet sie wieder, der Name Sabeth sei Getue.
Warum ist sie bloss so gereizt. Sie holt für Frau Emmenegger einen historischen Roman aus dem Regal und überfliegt die erste Seite. Was da steht, ist einfach furchtbar: Dann fällt ihr ein Tropfen Blut auf das nackte Bein und zerspritzt wie ein Feuerwerkskörper am nächtlichen Silvesterhimmel. Dass man sich überhaupt getraut, so einen Schwulst zu schreiben. Immerhin eine britische Bestsellerautorin. «Das wird Ihnen bestimmt gefallen», sagt sie lächelnd zu Frau Emmenegger. Neuerdings schmerzt das Lächeln, wenn auch nur kurz und leicht.
Jahrelang tat ihr ein Blick auf das Bücherregal wunderbar wohl. Da standen in alphabetischer Reihenfolge ihre Freunde und luden sie ein, jederzeit bei ihnen vorbeizuschauen, um mit ihnen ihre Gärten, Salons, Spelunken und heiligen Orte zu erkunden oder sich mit ihnen ins Bett zu legen. Inzwischen hat sie sich von ihren Freunden mehr und mehr zurückgezogen. In ihr absolutes Lieblingsbuch, «Madame Bovary», wagt sie sich immer noch rein, aber kürzlich hat sie gesehen, dass da im Herbst ein Veilchenstrauss vorkommt, das geht nicht. Nun hat sogar Flaubert einen Fleck auf seiner Schreiberschürze.
Ihre Gereiztheit wird immer spürbarer, ist bald wie ein Ausschlag, der juckt. Ich muss etwas unternehmen, denkt sie, muss in eine Gesprächstherapie oder so was. Aber der Therapeut wird ihr bloss klarmachen, was sie bereits weiss: Sie hat ihr Leben wie eine Topfpflanze vertrocknen lassen. Was hat sie denn noch. Einen Sohn in Kanada, der sich kaum mehr meldet. Einen Beruf ohne Aussichten. Und die ewig gleiche Wohnung. Beim Nachhausekommen hat sie das Gefühl, sie krieche in einen alten Pantoffel.
Sie sieht noch immer aus wie Gerda in Thomas Manns «Buddenbrooks» … mit schwerem dunkelrotem Haar, nahe beieinanderliegenden braunen Augen und einem weissen, schönen, ein wenig hochmütigen Gesicht. Ihr Mann hat ihr das mal vorgelesen und gesagt: «Das bist du.» Ihr Mann ist längst weg, aber die «Buddenbrooks» sind noch auf ihrem Regal, und ihre Haare sind noch dunkelrot. Manchmal, selten, kommt ein Mann in die Bibliothek, der ihr gefiele, und dann denkt sie, Sabeth, vergiss es. Der hat kein Interesse an einer Büchertante mit hochmütigem Gesicht.
Am Himmel steht der Mond wie ein Glas kalte Milch. Wie steht ein Glas kalte Milch? Anders als ein Glas warme Milch? Und «Stehen am Himmel» – geht das? Was solls, denkt Sabeth. Ist bloss ein Satz, wenn auch von einer Nobelpreisträgerin. Ist bloss ein Buch. Kürzlich hat am Fernsehen ein Nationalrat gesagt, er lese abends gern ein gutes Buch. Das sagen sie immer, die Wichtigtuer, und dann kann Sabeth nur lachen. Bitte, lest doch abends mal gern ein schlechtes Buch. Ich wüsste Hunderte von schlechten Büchern, kommt einfach bei mir vorbei.
Ich muss diese ständige Gereiztheit loswerden, denkt Sabeth. Ich muss wieder freundlicher sein zu den Büchern. Vielleicht hilft das. Sie stellt sich mit Schaudern vor, wie sie in einer therapeutischen Praxis sitzt und über sich Auskunft gibt, gedämpftes Licht und rundum Bücherregale. Nur das nicht. Sie bekommt sich auch so wieder in den Griff, wird wieder so sein wie früher. Sie erinnert sich an das viele Glück, das zwischen den Buchseiten lag. Es war fast sichtbar, wenn sie ein Buch aufmachte, als flögen ein paar kleinen Daunen hoch.
Die Tage sickerten ins Meer, liest Sabeth und schluckt leer. Ganz neu ist das Buch, und Sabeth hat beschlossen, es zu mögen. Aber es gelingt ihr nicht. Deutscher Buchpreis hin oder her. Sie hat sich darauf gefreut, doch die Freude ist nicht eingetroffen. Erneut ist die leidige Gereiztheit da. Warum müssen Tage sickern? Wie sickert ein Tag? Sondert er ab und zu ein paar Sekunden ab? Wann fängt er an zu sickern, schon morgens um elf? Hilfe, denkt Sabeth, ich stimme nicht mehr, etwas in mir muss kaputt sein.
Frau Emmenegger bringt den historischen Roman zurück, «ein grossartiges Buch», sagt sie. Wieder lächelt Sabeth, und wieder schmerzt das Lächeln. Mascha Kalékos Gedicht fällt ihr ein: Mein schönstes Gedicht? Ich schrieb es nicht. Und wie ging es schon wieder weiter … Sabeth eilt zum Lyrikregal und fängt fast fiebrig an zu blättern. Aus tiefsten Tiefen stieg es. Ich schwieg es. Frau Kaléko, denkt Sabeth und versucht nicht zu weinen, bitte helfen Sie mir.
Angelika Waldis
Aufgewachsen in Luzern, lebt und arbeitet die heute 74-jährige Autorin in Gockhausen ZH. Mit ihrem Mann hat sie 1982 das Jugendmagazin «Spick» gegründet und bis 1999 geleitet. Sie schreibt für Kinder und Erwachsene Kurzgeschichten und Romane (kulturtipp 26/14). Ihr letztes Buch «Aufräumen» erschien vor einem Jahr.