Eigentlich wollte ich in der Drogerie nur ein neues Duschmittel kaufen, aber die Verkäuferin gab mir, wie sie das oft tat, noch ein Müsterchen mit. «Extra für Männer», sagte sie und zwinkerte mir verheissungsvoll zu. Ich schaute es erst zu Hause genauer an. Oben auf dem Beutelchen stand «Bio-Wirkstoffkosmetik Anti-Aging», weiter unten «Feel beautiful», dann, fett gedruckt, «Age miracle» und untendran: «Schön über Nacht-Fluid». «Meine Güte», sagte ich vor mich hin. «Schön werden, jung bleiben, wie ein Wunder, über Nacht. Wahnsinn.» Auf der Rückseite stand, quasi im Kleingedruckten: «Sorgt für straffe Konturen am Morgen». Und das alles, und ich musste es zweimal lesen, dank «Sommerschneeflocken-Extrakt». Ich rieb mir die Augen und las es ein drittes Mal. Es stand immer noch da.
«Sommerschneeflocken-Extrakt». Was immer das ist, dachte ich, und wie auch immer eine «straffe Kontur am Morgen» aussieht, schaden wirds kaum, ich rieb mir abends das bisschen Creme ins Gesicht und ging schlafen. Am nächsten Morgen, es war ein sonniger Tag Mitte Dezember, stand ich auf, zog einer inneren Bestimmung folgend meine Winterkleider und die Wanderschuhe an, packte meinen Laptop, eine Schaufel und eine grosse Ikea-Einkaufstasche ins Auto und fuhr via Gotthard-Tunnel, Mailand und Turin nach Sestriere, einem kleinen Bergdorf an der italienisch-französischen Grenze. Ich suchte ein billiges Hotel, ass eine Pizza und ging früh ins Bett. Am nächsten Tag fand in Sestriere ein Ski-Weltcup-Rennen statt. Riesenslalom der Männer. Kurz vor Rennbeginn ging ich in ein Café mit WLAN, packte meinen Laptop aus und loggte mich in die Live-Übertragung des Schweizer Fernsehens ein. Ich schaute das Rennen und hörte sehr aufmerksam Bernhard Russi zu. Wenn er erklärte, wo die Skifahrer die berühmten Sekundenbruchteile liegen liessen, sah ich genau hin und machte mir entsprechende Notizen. Kaum war das Rennen zu Ende, klappte ich meinen Laptop zu und holte aus dem Wagen die Schaufel und die Plastiktasche. Ich schnallte mir Steigeisen an die Bergschuhe und ging die Piste entlang hoch bis zum Starthäuschen. Dann lief ich die gesamte Rennstrecke ab, Tor für Tor und allen Kurven nach, wo laut Russi die Zehntel- und Hundertstelsekunden im Schnee liegengeblieben waren. Sorgfältig kratzte ich dort mit der Schaufel die oberste Schicht Schnee ab und kippte sie in die Tasche. Es dauerte zwei Stunden, bis ich unten ankam. Als ich, mit der Tasche voll Schnee über der Schulter, den Zielbogen unterquerte, waren die Helfer schon daran, ihn abzumontieren. Ich packte die Tasche in den Kofferraum und fuhr auf direktem Weg weiter nach Val d’Isère. Dort fand am nächsten Tag ein Slalom der Frauen statt. Ich schaute und hörte wieder gut zu. Der Experte bei den Frauen hiess Michael Bont, und auch er sah immer haargenau, wo die Zeit liegenblieb. Wieder ging ich nach Rennschluss die Piste hinunter und schabte den Schnee in den Kurven ab. Dann fuhr ich nach Hause. Spätabends kam ich an, ging mit der Tasche auf die Wiese hinter meinem Haus und leerte den Schnee in eine alte Badewanne, die schon seit langem und unbenutzt unter einem Kirschbaum stand. In den nächsten Wochen und Monaten folgten Val Gardena, Alta Badia, Courchevel, Madonna di Campiglio, Santa Caterina, Semmering, Adelboden, Wengen, Flachau, Altenmarkt-Zauchensee, Kitzbühel, Garmisch-Partenkirchen, Schladming, St. Moritz, Cortina d’Ampezzo und Crans-Montana. Dann war es Mitte März, und die Badewanne war platschvoll, voll von gesammelten Sekundenbruchteilen, voll von verlorener Zeit. Ich deckte die Wanne mit einer Plastikplane zu und wartete auf den ersten so richtig warmen Tag. Der kam Mitte April. Die Sonne schien schon sommerlich heiss, der Kirschbaum stand in voller Blüte, ein Windstoss ging hindurch, weisse Blütenblätter wirbelten durch die Luft, und einen Augenblick lang hätte man meinen können, es schneit. «Sommerschneeflocken-Extrakt», sagte ich leise vor mich hin und lächelte. Dann entfernte ich die Plane von der Badewanne, zog mich splitternackt aus und stieg ins Wasser. Ich blieb drin liegen, bis mir vor Kälte der Atem stockte. Dann tauchte ich noch einmal den Kopf unter Wasser, stieg hinaus und hüpfte, aufgedreht vom Kälteschock, laut jauchzend dreimal um den Kirschbaum herum. Dann erwachte ich. Rieb mir lange die Augen. Setzte mich auf im Bett und sah neben mir, auf dem Nachttischchen, ein aufgerissenes Beutelchen. Oben auf dem Beutelchen stand «Bio-Wirkstoffkosmetik Anti-Aging», weiter unten «Feel beautiful», dann, fett gedruckt, «Age miracle» und untendran: «Schön über Nacht-Fluid». Ich stand auf, ging ins Badezimmer und schaute in den Spiegel. Täuschte ich mich, oder war das wirklich eine straffere Kontur als auch schon auf meinem Gesicht? Ich machte mir einen Kaffee und setzte mich an den Tisch. Klappte meinen Laptop auf und suchte den Terminplan der nächsten Ski-Weltcup-Saison. Nahm einen roten Kugelschreiber und notierte in meine Agenda, beim 28. Oktober, in Grossbuchstaben: SÖLDEN.
Ralf Schlatter
Der 46-Jährige wurde in Schaffhausen geboren, lebt als Autor und Kabarettist in Zürich. Zu seinen Werken gehören die Romane «Federseel», «Maliaño» und «Sagte Liesegang», der Erzählband «Verzettelt» und der Lyrikband «König der Welt». Im Mai erschien sein neues Buch «Steingrubers Jahr». Fürs Schweizer Radio schreibt Ralf Schlatter Hörspiele und Morgengeschichten. Mit Anna-Katharina Rickert tritt er als schön&gut auf, mit poetischem und politischem Kabarett. Sie sind Gewinner des Salzburger Stiers 2004, des Schweizer Kabarettpreises Cornichon 2014 und des Schweizer Kleinkunstpreises 2017, zurzeit auf Tournee mit ihrem Stück «Mary».
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