Der Tod betrat das Spitalzimmer, in dem Eugen Fink lag, ehemaliger Journalist einer grossen Tageszeitung.
Neben Fink befanden sich in dem Raum noch drei andere alte Männer, um die es auch nicht gut stand, aber nicht ganz so schlecht wie um Fink. Sie schliefen. Es war fünf Uhr. Der Tod kam immer um fünf Uhr. Draussen graute der Tag heran.
«Herr Fink, guten Morgen. Tod, mein Name», stellte sich der Tod vor. Er trug einen eleganten, perfekt geschnittenen Dreiteiler, aus dessen Brusttasche eine Seidenpochette hervorschaute. Eine Fliege vervollständigte seine Garderobe. Alles in reinstem Weiss.
Fink richtete sich auf. Er hatte mit dem Tod gerechnet, schon seit längerem, doch nun, da er vor ihm stand, freundlich lächelnd und Paul Newman nicht unähnlich, wäre es Fink recht gewesen, er hätte noch etwas auf sich warten lassen.
«Guten Morgen», gab Fink beinahe schüchtern zurück.
Der Tod ergriff einen mit graugrünem Kunststoff bespannten Hocker, stellte ihn neben Finks Bett und setzte sich. Schliesslich stützte er seine Hände auf seinem Spazierstock auf.
«Und, Herr Fink? Sind Sie bereit?», fragte der Tod.
Fink hielt kurz inne und schüttelte den Kopf. In der sinnlosen Hoffnung, sie könnten ihm irgendwie helfen, warf er einen Blick auf seine Zimmergenossen. Doch keiner rührte sich, sie schnarchten leise vor sich hin.
Der Tod nickte langsam und sagte: «Die wenigsten sind bereit.»
Fink schwieg und schaute traurig auf seine bleichen, von Altersflecken übersäten Hände, die vor ihm auf der Bettdecke lagen. Auf dem Rücken der einen war ein Infusionsbesteck festgeklebt. Zwei Schläuche führten hinein.
«Es liegt an unserem Verhältnis», sagte der Tod.
Fink sah verständnislos auf.
Der Tod wies mit dem Zeigefinger auf Fink und dann auf seine Brust: «An Ihrem Verhältnis zu mir.»
«Was ist damit?»
«Nun, es ist denkbar schlecht!»
«Wundert Sie das?», fragte Fink und sah trotzig aus dem Fenster.
«Eigentlich schon.»
Der Tod schlug die Beine übereinander.
Fink sah den Tod mit einer Mischung aus Fassungslosigkeit und Abscheu an. Er erinnerte ihn an gewisse Interviewpartner von früher; selbstgefällige Vertreter der Hochfinanz, die für ihre masslose Gier die schönsten Worte fanden.
«Aha? Und warum?», fragte Fink, in dessen alten, kranken Augen sich einen Moment lang die flammende Leidenschaft zeigte, in der er als junger Journalist gegen jene angeschrieben hatte, die ihre Machtfülle nicht verdient hatten.
«Weil ich falsch verstanden werde», sagte der Tod.
Auch so eine Antwort, die man Fink schon hundertmal gegeben hatte. Er stiess sarkastisch Luft aus.
«Ernsthaft», sagte der Tod, «Sie haben mich falsch verstanden, Herr Fink. Ihr ganzes Leben lang. Erst haben Sie mich jahrzehntelang ignoriert, so gut Sie konnten, und nun sehen Sie in mir jemanden, der Ihnen etwas wegnimmt.»
«Genau so ist es doch!», rief Fink und verschränkte die Arme. Die Infusionsschläuche zappelten wie sich paarende Kreuzottern.
«Nein, Herr Fink» – der Tod hielt inne und wischte sich eine Fluse vom Ärmel – «Sie hätten jeden Tag an mich denken sollen, sich jeden Tag an mich erinnern, und zwar nicht voller Furcht, sondern voller Dankbarkeit und Freude.»
Fink starrte den Tod an. Er hatte auf seinem Weg so manche skrupellose Verdrehungen gehört, aber die hier war quasi die Krönung seiner Karriere. «Dankbarkeit und Freude!», wiederholte er ironisch.
«Ganz recht. Sie haben schliesslich ein gesundes, langes Leben geführt.»
«Ja, aber jetzt sterbe ich!»
«Sehen Sie, das meine ich», sagte der Tod. «Diesen Zorn gegenüber dem Unausweichlichen. Diese Undankbarkeit gegenüber all dem Schönen zuvor. Das ist doch albern.»
Fink presste die Lippen aufeinander. Er war tatsächlich wütend darüber, dass seine Stunde gekommen war. Und es war tatsächlich albern, denn er hatte ja gewusst, dass es eines Tages so weit sein würde. Und es waren tatsächlich viele Tage vergangen, und die meisten davon waren schön gewesen. 82 Jahre alt war er. Wird auch nicht jeder.
Fink erinnerte sich an die Hochzeit mit Klara, der ersten Frau, die er überhaupt kennengelernt hatte und die es ihm auf zärtliche, humorvolle und innige Art überflüssig machte, sich mit weiteren Frauen zu beschäftigen.
Er erinnerte sich an die Geburt seiner drei Kinder, aus denen anständige, fleissige Menschen geworden waren.
Er erinnerte sich an die Geburt seiner Enkel, sieben waren es schon, und der achte war unterwegs.
Und er erinnerte sich an seine vielen Bergtouren. Die letzte hatte er mit 77 unternommen. Schafft auch nicht jeder.
Seine Gesichtszüge glätteten sich.
Der Tod lächelte, erhob sich von seinem Hocker und wies mit seinem Stock zur Tür: «Wollen wir?»
Fink nickte und fasste seine Bettdecke, um sie zurückzuschlagen. Er griff ins Leere. Seine Arme lagen immer noch auf der Bettdecke, sie gehörten nicht mehr zu ihm. Eugen Fink schwebte bereits als Geist über seinem Körper.
Der Tod öffnete die Tür. Vom Korridor her erstrahlte ein goldenes Licht.
«Was ist das?», fragte Fink stimmlos.
«Eben, der beste Teil von allem!», lachte der Tod und ging voraus.
Thomas Meyer
Thomas Meyer wurde 1974 in Zürich geboren und wuchs in Mellingen AG und Wädenswil ZH auf. Nach einem abgebrochenen Studium der Rechtswissenschaften arbeitete er als Texter und als Journalist. 2006 machte er sich selbständig. Mit seinem Debütroman «Wolkenbruchs wunderliche Reise in die Arme einer Schickse» von 2012 landete der Autor auf den Bestsellerlisten. Kürzlich erschien sein Roman «Rechnung über meine Dukaten» im Salis Verlag. Er lebt in Zürich.
Lesungen
Sa, 25.10., 20.00 Helmhaus Zürich (im Rahmen von «Zürich liest»)
Mi, 29.10., 19.30 Paradieskirche Binningen BL
Do, 30.10., 20.00 Singsaal Zentrum Adliswil ZH