Den Theatern in der Schweiz kommt das Publikum abhanden. Von 2006/07 bis 2012/13 waren es knapp 10 Prozent weniger Besucher: Die Zahl sank von 1,6 auf 1,47 Millionen. Einige Häuser konnten zulegen, anderen liefen die Zuschauer in Scharen davon. Die Statistik des Schweizerischen Bühnenverbandes bestätigt einen sinkenden Trend und damit Bedeutungsverlust. Kulturpolitische Fragen stellen sich unwillkürlich, denn nach wie vor fliesst der grösste Teil der öffentlichen Kulturausgaben den Theatern – und Orchestern – zu, nämlich rund 600 Millionen Franken oder 21 Prozent.
Wie rasch sich Zahlen in Zündstoff verwandeln, demonstrierten die Filmschaffenden, die ihre Subventionen und Besucher mit jenen des Theaters verglichen, über Ungerechtigkeiten klagten und energisch deren Beseitigung verlangten. Nun giesst das massgeblich von der Stadt Zürich finanzierte Theater am Neumarkt unfreiwillig, jedoch kräftig Öl ins Feuer. Es verzeichnete in der vergangenen Spielzeit bescheidene 10 706 Besucher oder 46,8 Prozent weniger als im Bühnenjahr zuvor. Geradezu in den Keller stürzten die um rund 60 Prozent geringeren Billetteinnahmen mit lediglich 210 629 Franken. Dank der Auflösung eines Legats gelang es knapp, den Betriebsaufwand von 5, 527 Mio. Franken zu decken.
Die unerfreulichen Zahlen belasten ein mutiges Ensembletheater, das sich seit bald 50 Jahren mit zeitgenössischen und experimentellen Inszenierungen profiliert und im ganzen deutschsprachigen Raum Ansehen geniesst. Eine Erklärung für den wirtschaftlichen Sturzflug liefert möglicherweise der Wechsel in der Direktion von Barbara Weber und Rafael Sanchez zu Peter Kastenmüller und Ralf Fiedler. Auch anderen Theatern ist diese Erfahrung vertraut. Die rigorose Senkung der Eintrittspreise sorgte für mediales Interesse, nicht aber für eine nachhaltige Attraktivität.
Weil das Theater am Neumarkt künstlerisch ernst zu nehmen ist und nicht in der schwarzen Provinz, sondern in einer Stadt mit dem Selbstverständnis einer Metropole liegt, wäre eine sorgfältige Situationsanalyse zu erwarten gewesen. Stattdessen schlecken sich politische Kreise die Finger, weil sie glauben, aus den Hiobsbotschaften Kapital schlagen zu können. Die FDP-Fraktion deponierte im Zürcher Stadtparlament aufgeregt eine schriftliche Anfrage samt peinlicher Drohung mit rollenden Köpfen. Der Beitrag für ein Lehrstück des absonderlichen Umgangs der Politik mit der Kultur ist perfekt.
Die FDP in teilweiser Absprache mit der SVP, CVP und den Grünliberalen will die stadtzürcherischen Finanzen sanieren und nimmt auch die Kulturausgaben ins Visier. Das ist zunächst nachvollziehbar konsequent, weil in einem Gemeinwesen, das den Gürtel energisch enger schnallen muss, die Kultur keinen Sonderstatus geniessen kann. Ob aber Kürzungsrunden in Kulturfeindlichkeit umschlagen müssen, darf füglich bezweifelt werden.
Der FDP sind die mit kulturellen Institutionen abgeschlossenen Subventionsverträge ein Dorn im Auge, weil während ihrer mehrjährigen Laufzeit die finanziellen Leistungen «auch bei ärgstem Sparbedarf weder vom Stadtrat noch vom Gemeinderat in ihrer Höhe angetastet werden können». Genau so ist es. Denn die Eigenheit von Verträgen besteht nun mal in der Unmöglichkeit einseitiger Änderungen. Das sollte Mitgliedern einer gesetzgebenden Behörde klar sein.
Doch Politikerinnen und Politiker mit Brettern vor dem Kopf wollen das Gebot der Vertragstreue verletzen, weil sie die der Kultur verbindlich zugesicherten Gelder nicht als sinnvolle Investitionen betrachten, sondern als für den Sparzugriff «blockierte» Mittel. Dabei wäre es furchtbar praktisch, die Kulturkassen als Sparschweinchen schlachten zu können.
Zu dieser verblüffend schiefen Optik passt der FDP-Antrag ans Zürcher Stadtparlament, den Kulturinstitutionen, die ein Bilanzdefizit ausweisen, die Subventionen um bis zu einem Fünftel zu kürzen. Dieser rein über Zahlen gesteuerte Automatismus blendet die Ursachen für Defizite einfachheitshalber aus. Der Unsinn dieses neoliberalen Bestrafungsfestes offenbart sich bei der Vorstellung, es würde auf defizitäre öffentliche Haushalte stracks mit Steuersenkungen reagiert.
Eine Kulturpolitik, die Museen, Bühnen und Konzertsäle allein durch die Kostenbrille betrachtet, bloss auf rote Bilanzen wartet und dann als schlaue Massnahme blitzartig den Geldhahn zudreht, kapituliert vor der wesentlich anspruchsvolleren Aufgabe, Ursachen und Wirkungen zu erfassen und Kultur in ihren Zusammenhängen als Teil der Stadtpolitik zu fördern.
Durch den gesellschaftlichen Wandel und die fortschreitende Digitalisierung unserer alltäglichen Welt wird die unausweichliche Debatte über die Verteilung der Kultursubventionen radikal zu führen sein. Daran beängstigend ist nur, dass sich Amateure aus der Politik einmischen. Insofern gehen vom Theater am Neumarkt alarmierende Signale aus.
Alex Bänninger
Alex Bänninger, Stettfurt TG, ist Publizist und gehört zur Leitung der Internetzeitung Journal 21. Er war Direktionsmitglied des Bundesamtes für Kultur und Kulturchef des Schweizer Fernsehens.