Ich versuche, nicht klaustrophobisch zu werden. Links von mir ein schwitzender Fettsack, der pausenlos in sein Handy tippt, rechts Rachid, der die junge Frau auf dem Vordersitz begafft, die mit dem herunterklappbaren Spiegel des beigen 1970er-Jahre-Mercedes zu verschmelzen scheint. Sie schminkt sich hastig ab; bevor wir ankommen, wird sie einen Louis-Vuitton-Hijab montieren. Die Sonne knallt unnachsichtig vom Himmel, der Fahrer geht auf der gesamten Strecke nie vom Gas. «She’s a pro», flüstert Rachid mir zu. «I’m sure she is …» Rachid war ein Sufi und lebte neben Nutten, Zigaretten und Alkohol streng asketisch, bis er eine jüdische Malerin aus Finnland kennenlernte, mit der er nun eine Skype-Fernbeziehung führt. Wir sind auf der Route Tanger–Tétouan.
Der ehemalige König von Marokko und Vater des heutigen Regenten Mohammed Six, Hassan Deux, war todbeleidigt, als er als junger Herrscher morgens um neun auf dem Pasteur-Boulevard von Tanger einzog und niemand da war, um ihn zu begrüssen. Er wusste es nicht besser. Neun Uhr morgens – wer ist in dieser Stadt um diese Zeit schon wach?! Ahnte der denn nicht, welchen Tribut die Nächte hier fordern? Auf jeden Fall ist die Universität, an der Rachid Vorlesungen hält, in Tétouan statt in Tanger, und er muss einmal die Woche für zwei Tage da hinfahren, was je nach Bleifuss des Taxichauffeurs zwischen 45 Minuten und einer Stunde dauert. Tétouan. Der Name ist berberisch und bedeutet «Augen». Les yeux. Los Ojos. Aleuyun.
Vor ein paar Tagen war das Eid. Eid ul Adha, das Opferfest, bei dem die Muslime Abraham gedenken, der Allah so sehr liebte, dass er ihm seinen Sohn geopfert hätte. Vergleichbar mit Weihnachten. Nur kauft man statt Bäume Böcke, möglichst im Voraus, denn sie werden immer teurer, je näher der Termin rückt. Die blöken dann aus den Häusern, und die ganze Medina, die Altstadt, ist voll Stroh und Kacke. Morgens um neun, nach dem Gebet, wird ihnen die Kehle durchgeschnitten. Allahu akbar. Die engen Gassen voller Blut. Mohammed rasul. Auf den Plätzen sitzen Halbstarke in Trainerhosen und sengen über Feuertonnen die Haare von den abgetrennten Köpfen. Tanger Hades. Tanger Vorhölle. Frische Leberli über Kohlen in einem Tontopf geröstet.
Wir gehen in die Bar. Die Tapas sind nicht der Rede wert. Ich bin enttäuscht, und Rachid meint, wir seien halt nicht in Tanger, wo wir frischen Fisch in die Bar reinbringen könnten und er uns mit Gemüse und Gewürzen gebraten werde. In Tanger frequentieren die Einheimischen nur jene Bars, welche die besten Tapas bieten. Kleine Teller mit Gemüse, Couscous, Paella, frischem Fisch, Oliven und Hühnchen. Höhepunkt war die inzwischen geschlossene, legendäre Dean’s Bar von Joseph Dean, der sich anno dazumal standhaft weigerte, den amerikanischen Beat-Autor William S. Burroughs zu bedienen. Vermutlich hielt er ihn für einen Grüsel.
In der Bar treffen wir Tambour, ein Bär von einem Menschen. Laut, haarig und volltrunken. Mit einer veritablen Trommel. Wir begleiten ihn zu einem Trödelladen in der Nähe. Im Hinterzimmer ist bereits ein Besäufnis im Gange, mit Abdul, einem Marokkaner, der in Belgien lebt. Der Raum ist düster und mit Teppichen ausgelegt. Licht bricht durch Ritzen und malt zusammen mit dem Staub in der Luft handfeste Strahlen. Irgendwann zeichnet sich weiter hinten im Raum eine Silhouette ab. Jan Fleischmeier, ein Kärntner Journalist, den ich von früher kenne. In den 1990ern lebte er in New York auf der Strasse, heute schreibt er für eine Wiener Zeitung über den Mittleren Osten. Eben ist er zurück aus dem syrischen Bürgerkrieg, wo er die Kurdengebiete besuchte. An der türkischen Grenze hätten sie ihn fast erwischt. «Die Türken fuhren den ganzen Scheiss auf. Blendgranaten, Warnschüsse … wir rannten im Schutz der Morgendämmerung. Die Letzten haben sie geschnappt.» Er trinkt Opiumtee aus einer PET-Flasche.
Plötzlicher Aufbruch. Ziel: Plage Marti, der Strand einige Kilometer entfernt. Der Wagen hält vor einer Bar vis-à-vis von einem Hotel, wo man mit den Mädchen gehen kann, wie Rachid anmerkt. Prostitution ist sehr verbreitet. Jeder Club wird irgendwann nach Mitternacht von jungen Frauen geflutet. Und sie kommen nicht zum Tanzen. «Sogar die Huren tragen mittlerweile Kopftücher, damit sie auf der Strasse in Ruhe gelassen werden», erläutert Fleischmeier. Überhaupt käme die weibliche Verhüllung von der Tempelprostitution her und …
Fleischmeier mag nicht reden. Er leert Stork um Stork. Tapas werden aufgetischt, leere Schälchen abgetischt. Die Marokkaner streiten sich auf Arabisch mit Tambour, der eine Nutte beleidigt hat. Fleischmeier geht mit einem der Mädchen weg. Ich drücke an meinem iPhone rum. LA Times. Lou Reed dies at 71. Ich schreie die Streiterei ruhig und dann: «Lou Reed est mort.» «Who the fuck is Lou Reed?!», fährt Rachid mich an und lässt den Tambour aus den Augen, der einem der Mädchen eine runterhaut, der Belgier will ihn noch am Ellenbogen packen, klatscht dann aber längs mit der Kinnlade auf den von verschiedensten Flüssigkeiten versauten Boden. Ich setze an, dass ich diese Art von Gewalt nicht gutheissen kann, aber in diesem Moment kehrt Fleischmeier zurück und gibt mir eine auf den Hinterkopf: «Jetzt halt die Klappe und renn!» Wir stolpern raus, während zwei Fussbullen reinstürmen und aus der Nähe eine Sirene lärmt. Fleischmeier winkt ein Taxi heran. «Rachid!!!», rufe ich. «Der findet schon alleine heim, der ist kein Kind mehr», zischt Fleischmeier ärgerlich, und zum Taxifahrer: «Na los, mach schon. Nach Tanger. A TANGER!»
Pablo Haller
Der 26-jährige Autor ist der «radikalste Beat-Poet der Schweiz» («Sonntagsblick») und Verleger («Der Kollaboratör»). Er erschreckt die Leute als Spoken-Word-Poet, arbeitet seriös im Journalismus und publiziert Gedichtbände im Mainzer Gonzo-Verlag. Zuletzt erschien von ihm das Langgedicht «Leda».