In einigen Monaten werde ich 60 Jahre alt. Und stehe vor dem Abschied vom Altsein: Meine handylose Zeit hört auf.
Als ich letzten Winter für einige Monate in Istanbul lebte, sagte mir meine türkische Übersetzerin, dass es in Istanbul ohne Handy nicht gehe. Ich glaubte ihr. Also lieh ich mir ein altes türkisches Nokia, liess es registrieren. Lud es mit einem Guthaben auf. Und benutzte es nicht. Es war schwarz mit winzigen Zahlentasten. Ich konnte es nicht leiden. Ich verabredete mich weiterhin per Telefon oder Mail (ich habe meist einen kleinen Laptop bei mir, bin also prinzipiell erreichbar!). Oder ich machte bei einem Treffen das Datum für das nächste Zusammensein aus. Da alle wussten, dass ich kein Handy hatte, hielten sie die Termine ein. «Und wenn du verloren gehst in dieser 15-Millionen-Stadt?», sagte meine Übersetzerin. Ich ging nicht verloren.
Und doch gab es Situationen, in denen ein Handy praktisch gewesen wäre. Einmal wollte ich eine türkische Verlegerin treffen, wartete aber an der falschen Haltestelle. Schliesslich bat ich eine wildfremde, sympathisch aussehende Frau um ihr Handy. Sie gab es mir sofort. Meine Verlegerin war ganz in der Nähe. Ich gab das Handy zurück und unterhielt mich ein wenig mit der Frau. Ich erfuhr, dass sie Schauspielerin und Theaterpädagogin war, und als die Verlegerin kam, wechselte auch sie einige Worte mit der Fremden. Am Ende gingen wir zusammen in ein Café und assen kandierte Quitten mit Rahm. Mit Handy wäre das nicht passiert. (Ohne auch nicht.)
Seit zehn Tagen liegt ein Handy auf meinem Fensterbrett; es ist ein Smartphone. Es ist das alte, aber noch ziemlich neue Smartphone einer jüngeren Freundin, die fand, es reiche jetzt mit meiner Exzentrik! Ich nickte. Dieses Smartphone soll höflich mit einer Prepaidkarte funktionieren; ich bin zu nichts verpflichtet. Eine Art Verlobungszeit scheint angebrochen, bis zum Vertrag. Meine junge Freundin hat versprochen, mir genau zu erklären, wie es funktioniert. Meine Söhne haben gesagt, so ein Smartphone sei selbsterklärend, aber sie würden mir alles zeigen. Es ist perlmuttfarben. Es hat eine türkisfarbene Schutzhülle. Es sieht harmlos aus. Wenn man es anschaltet, erscheinen helle Felder, die mit Sensoren ausgestattet sind, sodass sie auf die Berührung von Fingerspitzen reagieren und sich öffnen wie explodierende Blüten. Seine Oberfläche ist variabel; neue Funktionsbereiche erscheinen, wenn man hin und her wischt.
Ich erinnere mich, in einer Buchhandlung ein Mädchen von vielleicht drei Jahren gesehen zu haben, das sich von einem Tisch ein Bilderbuch nahm und dann neugierig mit dem Finger über den festen Pappdeckel hin und her fuhr. Immer wieder. Es kannte das Objekt Buch noch nicht.
Ein Handy kann so vieles können! Meine Freundin weiss immer, wann der nächste Zug fährt oder ein Konzert beginnt, wie das Wetter wird. Sie kann schnell auf alles reagieren. Unter den vielen Apps hat sie eine, die ihr die Planeten-Konstellationen des Nachthimmels mit ihren Namen zeigt: Da kannst du sehen, was du siehst. Sagt sie. Ich staune und mir wird schwindelig.
Handylos stehe ich auf verlorenem Boden. Den gestirnten Himmel über mir und eine unverstandene Scheu in mir.
Die Tage meines ruhigen Altseins sind abzusehen. Ich bin auf dem Weg in die Kommunikationsunmittelbarkeit der Jungen, die sich ständig beschleunigt und erneuert.
Was habe ich gegen Handys? Ich weiss es nicht. Meine Argumente sind schwach. Diese Haltung, murmle ich, ich mag die Haltung der Menschen nicht, die in Handys schauen. Die angespannten Schultern, das Starren auf ein so kleines Feld. Jemand, der in einem Buch liest, sieht anders aus. Selbst der versunkenste Leser hat nicht diesen verkrampften Nacken und stieren Blick. So lehnt er sich manchmal zurück und sieht auf, versonnen, lächelnd. Es macht einen Unterschied, ob die Vorstellungskraft Bilder entwickelt oder ob der Blick eine rasche Folge von Fotos aufnimmt.
Gerade weil sie schnell sind, fressen Handys Zeit. (Nicht nur, indem sie ablenken.) Es war einmal, da warteten Liebende Stunden, Tage auf Briefe. Was empfanden sie in diesen langen Weilen? Mit der schnellen Antwort verschwinden Erlebnisfelder. Vorfreude, Bangen, welche Intensivierung lag in der Verzögerung! Und welch Raum für die schlichte Evidenz dazusein.
Gerade weil sie verlässlich sind, sind Handys nicht treu. Eine Verabredung kann jederzeit verschoben, geändert, abgesagt werden. So bleibt der gelebte Augenblick immer vorläufig. Was er bedeutet, entscheidet die nächste SMS. Und der Alltag wird zum Leben auf dem Sprung.
Oft ist der Reiz, der von einem Handy ausgeht, stärker als der Moment. Ich hasse es, wenn – etwa bei einem gemeinsamen Essen – die Mitglieder der Tafelrunde regelmässig in Handybotschaften abtauchen. Elektronische Kurznachrichten dürfen stärker sein als die gemeinsam geteilte Mahlzeit. Für so ein flüchtiges Zusammensein möchte ich nicht kochen.
Was mich aber vielleicht am meisten stört: Die ständige Erreichbarkeit suggeriert, dass man reaktionsbereit sein muss. Schon höre ich meine Söhne rufen: Du kannst es abschalten! Aber tut man das, wenn man mit einem Handy lebt? (Sicher, sicher, es gibt Vernunftehen!)
Vielleicht habe ich auch Angst vor dem Verlust meiner guten Einsamkeit. Dem Abschied von einer Dauer, die nur mir allein gehört. Als Mutter habe ich immer geantwortet. Aber auf Kinder, nicht auf ein vibrierendes Smartphone.
Das Handy meiner jungen Freundin sieht schön aus, wie es so daliegt, auf dem Fensterbrett. Alle, sage ich mir, haben so etwas; es gehört dazu. Ohne ein Handy kannst du heute kaum mehr einen Flug buchen. Du brauchst den TAN, der per SMS zugeschickt wird.
Morgen also lasse ich mir zeigen, wie es funktioniert. Ehrlich, morgen bestimmt.
Angelika Overath
Die Autorin wurde 1957 in Karlsruhe geboren. Sie arbeitet als Reporterin, Literaturkritikerin und Dozentin. Zuletzt sind von ihr der Roman «Sie dreht sich um», der Gedichtband «Poesias dals prüms pleds. 33 romanische Gedichte und ihre deutschen Annäherungen» und der Band «Gebrauchsanweisung für das Engadin» erschienen. Die vielfach ausgezeichnete Schriftstellerin lebt seit 2007 im Engadiner Dorf Sent und hat drei Kinder.