Schauspieler, Busfahrer, Sänger, Polizist – als Kind hatte ich viele Traumberufe. Heute bin ich nicht nur froh, dass sich keiner dieser Wünsche erfüllt hat. Ich frage mich auch, warum mich gerade diese Tätigkeiten zu faszinieren vermochten. Wenn ich heute darüber nachdenke, dann müsste mein Traumjob schon ausgefallener sein.
So wäre ich gerne Autor von Kalendersprüchen, jenen Sätzen, die man auf der Rückseite abgerissener Kalenderblätter zu lesen bekommt. Ich würde mich dieser vergessenen Kunstform widmen, sie verinnerlichen, sie zelebrieren. Aus meiner Feder kämen geflügelte Worte, ich produzierte Weisheiten in Häppchenform, Aphorismen-Apéros, wenn man so will. Ich dichtete Perlen wie: «Die Zufriedenheit ist wie die Türe des Tigerkäfigs. Man sollte sie einfach zulassen.» Oder: «Wer ohne Fehler ist, werfe den ersten Stein. Wer mit Fehler ist, lege den ersten Stein zur Seite und werfe den zweiten.» Was diese Sätze zu bedeuten hätten, wäre nicht so wichtig. Gut klingen sollten sie, den Rest überliesse ich der Interpretation der Leserin, des Lesers; diese dürften hineinwünschen, was ihnen genehm ist. Selbstverständlich wäre ich keiner dieser Quacksalber, die sich Beliebiges aus den Fingern saugen würden. Oder laienhafte Sprüche von sich gäben, wie man sie zur Genüge auf Facebook ertragen muss. Nein, die Kunst des Kalenderspruchs nähme ich ernst, ich würde zum Bonmot sapiens und hätte für jede und jeden das Passende dabei, die ganze Gefühls- und Themenpalette, saisonal angepasst, stets aktuell.
Gerade in der heutigen Zeit, die nach mundgerechter Einfachheit schreit, wären meine Kalendersprüche so etwas wie das Twitter des kleinen Mannes. Die Komplexität der Welt würde von mir aufs Kürzeste reduziert. Sätze wie Shots an der Bar, effektiv und in ihrer Einfachheit formvollendet. Worte, die als Mutmacher, Hoffnungsspender oder intellektuelle Stimuli fungierten. Bei meiner Arbeit nähme ich kein Kalenderblatt vor den Mund, würde wild philosophieren, dichten, mit Worten spielen – jeder Spruch spruchreif. Wie heisst es so schön: Reden ist Silber, Kalenderspruch ist Gold.
Nachdem Bob Dylan als erster Musiker den Literaturnobelpreis geholt hat, würde ich es ihm als erster Kalenderdichter gleichtun. Der Ausdruck Kalenderspruch wäre nicht mehr negativ behaftet, ich wäre nicht bloss irgendein Sprücheklopfer, nein, man spräche von einer neuen Form der Literatur. Wer dachte, Slam Poeten seien die Meister der literarischen Kurzform, der irrte und blamierte sich, und selbst die versiertesten aller Haiku-Dichter würden auf mich neidisch werden. Meine Kalendersprüche würden beweisen, dass in der Kürze nicht nur die Würze, sondern auch das Wahre und das Schöne lägen. Dem längst totgesagten Kalenderspruch würde ich zu neuem Aufschwung und nie dagewesenem Ruhm verhelfen. Ich würde zu Lesungen eingeladen, aber ich würde ablehnen, um unerkannt zu bleiben. Ich wäre der Banksy der Kalender-Community, geheimnisvoll und mysteriös. Wahrscheinlich müsste ich mir ein Pseudonym zulegen, irgendetwas wie Karl-Enders-Bruch (ich gebe zu, am Namen müsste ich noch arbeiten). Um mich würden sich Mythen bilden, mein Leben würde verfilmt, mit George Clooney als Protagonisten – es wäre die schwierigste Rolle seiner Karriere –, ebenso würde ich die zahlreichen mir angebotenen Werbeverträge ablehnen, denn ich würde nicht für das Geld, sondern für die Kunst schreiben.
Trotzdem würden meine Sätze ohne mein Einverständnis auf Postkarten, auf Tassen und T-Shirts gedruckt. Teenager würden sie sich als Tattoos stechen lassen, zwischen Notenschlüsseln und chinesischen Schriftzeichen. Erstmals würden Kalendersprüche als E-Reader veröffentlicht, nur meiner Sprüche wegen. Mein Werk würde in Dutzende von Sprachen übersetzt, Sekundärliteratur würde darüber erscheinen, Studenten kauften Reclambüchlein meiner Sätze und Kinder verfassten eigene Kalendersprüche in der Schule. Diese Begeisterung ginge durch alle Bevölkerungsschichten, wäre alters- und bildungsübergreifend und dominierte den Small Talk in der Nachbarschaft, dem ÖV und am Arbeitsplatz.
Mit meinen Kürzesttexten würde den Menschen der Start in den Tag erleichtert, versüsst sogar. Manche würden gewollt früher ins Bett gehen, nur damit sie nicht mehr so lang warten müssten, bis sie das nächste Kalenderblatt abreissen und den Spruch auf der Rückseite lesen könnten. Weitere würden Kalender nur noch der Sprüche wegen kaufen, die Tage, Wochen, Monate darauf verkämen zur kaum beachteten Nebensache. Die Menschen würden in ihren Wohnungen Bilder ab- und Kalender aufhängen und auch in Galerien und Museen hingen beinahe nur noch Kalenderblätter.
Ich fantasiere. Mein Leben als Aphorismendichter wird ein Traum bleiben. Die Tage des Träumens sind gezählt – das entnehme ich meinem Kalender. Wie heisst es so schön: Träume sind Schäume. Aber wenn dies stimmt, dann wäre ja der Stoff aus dem die Träume sind … Schaumstoff?! Das ergibt keinen Sinn. Aber es wäre ein guter Kalenderspruch.
Kilian Ziegler
Der 32-jährige Oltner Slam Poet tritt seit drei Jahren gemeinsam mit dem Pianisten Samuel Blatter abendfüllend auf Kleinkunstbühnen auf. Nach ihrem ersten Programm «The Phantom of the Apéro – ein Wortspielbuffet» geht das Slam-Kabarett-Duo mit dem neuen Programm «Ausbruch aus dem Strauchelzoo» auf Tour.