Weil es Wind gibt und Regen, sieht sie, wie sich die Blätter an den Bäumen bewegen, als wären sie von Wasser umgeben. Ein Aquarium, sagt sie, aber niemand ist im Raum. Sie sieht silberne Fische schwimmen zwischen den bewegten Blättern draussen vor dem Fenster, sieht Quallen in ihren Zeitlupenbewegungen. Sie bewegen sich hoch, über die Baumspitzen, sinken. Sie sieht den Postboten in seinem weiten Regenmantel, der Regenmantel, der über den Postboten und sein Motorrad reicht, und eine Qualle bleibt am Rückspiegel hängen, gleitet weiter, gleitet in Quallenbewegungen, die an das Atmen erinnern, davon.
Die Qualle, ruft sie zum Postboten, aber dieser ruft nur müde zurück, nein, gute Frau, das nicht auch noch, etliche Briefe sind es wieder, die ich verteile, von der Aufsichtsbehörde des Amtes für Leistung und Glückseligkeit.
Ich schaue aus dem Fenster, ruft sie, doch der Postbote ist weg. Nur dicht über dem Boden liegt eine Wolke, die aus seinem Motorrad kam, das Geräusch des Motors hört sie weiter weg.
Und später auf der Strasse sieht sie die Quallen nicht, sieht die grauen und weissen Flächen der Wirklichkeit, sieht Leitungen, an denen Strassenbahnen entlangfahren, Schirme mit Menschenbeinen, Krähenvögel, die krähend ihr nasses Gefieder bewegen. Das Licht als Eigelb, Luft wie Brotteig. Und so ruft sie: Es regnet. Und niemand reagiert.
In einem Schaufenster kniet eine gelbliche Dame, deren Haut über den Bund des Rockes geht. Manchmal fasst sie sich dahin, hebt das Fleisch kurz an, lässt es fallen. Die Dame entfernt Staub von den Dingen. Dinge, die ferngesteuert sind mit Sensoren. So steht es geschrieben, aussen am Schaufenster. Rasenmäher mit Sensoren, Toaster mit Sensoren und Schiebearmen, Backofen ohne Hitze mit Sensoren, Waschmaschinen ohne Wasser, Messer ohne Gefahr, sich zu schneiden, Kletterbäume mit Fangarmen. So steht es geschrieben. Ich bin dein Glück steht auf ihnen geschrieben. Ich bin dein Glück.
Sie klopft an die Scheibe, bevor sie weitergeht, drückt ihr Gesicht an die Scheibe, die Dame im Schaufenster schüttelt den Kopf und versucht, den Stirn- und Nasenabdruck, den ein Gesicht auf einer Scheibe hinterlässt, von innen zu entfernen.
Sie geht über einen grossen Platz, sieht Menschen und weiss nicht mehr, wer echt ist und wer nicht. In einem Bankgebäude fährt sie mit dem Aufzug in den siebten Stock. Eins, zwei, drei, vier, fünf, sechs, sieben. Oben findet sie, an einem Schreibtisch sitzend, einen jungen Herrn in einem altrosa Hemd, und sie fragt ihn, ob er glücklich ist.
Sind Sie glücklich?, fragt sie ihn. Der Herr schaut auf, sein Gesicht hat eine Maiskolbenfarbe, er drückt weiter auf die Tastatur mit insektenartigen Händen.
Verlassen Sie sofort diesen Raum, ruft er, verlassen Sie augenblicklich diesen Raum.
Also geht sie weg, fährt im Aufzug nach unten. Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins.
In einer halben Dunkelheit sieht sie die Quallen kommen, sieht die Strassenbahnen voller Menschen. Manchmal steigt jemand ein, manchmal steigt jemand aus. Das Licht verschwindet, der Boden ist feucht, hinter ihr klebt ein fürchterliches Rot am Himmel.
Ob sie keine Angst habe, hier so ganz allein, fragt ein Herr später in der Dunkelheit, hinter ihm die Bewegungen der Quallen, das Licht der Strassenlaternen. Sie schaut ihn an.
Ich frage ja nur, sagt er. Ich frage ja nur, man weiss es nicht, man weiss nicht, wer unterwegs ist um diese Zeit und wohin und vor allem warum.
Das weiss ich nicht, das stimmt, sagt sie und fragt den Herren, wohin er gehe und warum.
Das geht Sie überhaupt nichts an, sagt dieser, das sei eine Frechheit, ihn das zu fragen. Dass er keiner der Bösen sei, sagt der Herr, und fuchtelt mit Händen und Armen.
Ich habe gefragt, wohin Sie gehen und warum. Sie meinten, das wisse man nicht, aber wenn man es weiss, dann muss man vielleicht nicht mehr ängstlich sein.
Ich bin nicht ängstlich, sagt er, ich bin ein Mann.
Schön sind die Quallen, ruft sie und geht rückwärts davon.
Der Herr aber ruft, dass es doch immer die Gleichen seien, die alles kaputt machten, und dass sie, also er und die Frau, die müssten sich die eigene Welt schützen, es seien böse Mächte am Kommen, und alles würde einmal untergehen. Wenn es so weitergeht, ist bald alles vorbei.
Die Quallen tanzen, der Regen fällt in Fäden. Sie geht durch die Fäden, es gibt die Dunkelheit, und es gibt sie in ihr und das Glitzern der Strasse. Es gibt den Geruch von gebratenem Fleisch, von nassem Karton, Absätze machen Klang auf dem Beton, auch ein Orchester in einem der vielen Fenster. Eine Frau streichelt einer anderen die Finger, und an den Fingern haben sie goldene Ringe. Es gibt den Mann mit schwarzem Hut und langem dunklem Mantel, der an einer Leine einen kalbgrossen Hund führt, er schaut die Frauen an und sagt etwas, das die Damen offensichtlich berührt. Sie beginnen, im Regen miteinander zu tanzen. Sie sieht Polizisten, die sich in ihrem Blaulicht auf die Damen und den Herrn zubewegen. Sie führen jene Menschen ab, die sich, wie sie, rückwärts bewegen, denkt sie. Also geht sie, als wäre nichts, an den Polizisten vorbei. Sie geht geradeaus, schaut in die Schaufenster, schaut auf die Uhr und murmelt die Uhrzeit, wie es sich gehört. Zu Hause schaut sie aus dem Fenster, auch am nächsten Tag, am Tag danach, Tag für Tag. Sie liebt die Quallen.
Vor ihrem Fenster wird das Bild einer Frau an die Plakatwand gekleistert. Mein Ich kann mehr sein, als ich bin, sagt diese lachend und hält sich dabei selbst im Arm.
Julia Weber
Die Autorin wuchs in Zürich auf. Nach Berufslehre und Matura studierte sie 2009 bis 2012 literarisches Schreiben am Schweizerischen Literaturinstitut in Biel. 2012 hat sie den Literaturdienst gegründet (www.literaturdienst.ch), und sie ist Mitbegründerin der Kunstaktionsgruppe «Literatur für das, was passiert». Kürzlich ist ihr Debütroman «Immer ist alles schön» erschienen. Julia Weber lebt mit ihrem Mann und ihrem Kind in Zürich.