Ich weiss beim besten Willen nicht, was es war. Hatte ich im Fernsehen gesehen, wie sie dieses unselige Schiff aus dem Meer hievten? War es eine Werbung im Tram für Ferien auf den Malediven? Bin ich an einem Robinson-Spielplatz vorübergegangen? Man weiss ja bis heute nicht, wie alles ins Unterbewusstsein kommt, von dort in den Kopf und im Schlaf wie ein abgefahrener Spielfilm hinter die Augen. Auf jeden Fall träumte ich, ich hätte eine Kreuzfahrt gemacht. Und dann muss ich mich wohl im Bett umgedreht haben. Denn als Nächstes träumte ich, das Kreuzfahrtschiff sei gekentert. Träume sind ja meistens so angelegt, dass man entweder überlebt oder erwacht. Ich bin nicht erwacht. Ich träumte, ich hätte es auf ein Rettungsboot geschafft und das Rettungsboot auf eine Insel, und natürlich war die Insel eine einsame Insel. Aber, und jetzt wurde mein Traum langsam interessant, ich war im Boot nicht allein. Sondern mit fünf anderen. Ich kann jetzt nicht mehr genau sagen, ob wir auf der Insel zuerst ein Vorstellungsspiel machten und uns dazu eine Kokosnuss zuwarfen. Auf jeden Fall entpuppten sich die anderen fünf als ein Metzger, eine Kindergärtnerin, ein Schreiner, ein Buchhalter und eine Bankangestellte.
Ich erwachte noch immer nicht. Und jetzt geht es, wie auf einsamen Inseln so üblich, ums nackte Überleben. Alle fangen sofort an, ihren Teil dazu beizutragen, jeder in seinem Spezialgebiet. Der Metzger baut mit dem Schreiner eine Falle, um Tiere zu fangen. Schon am ersten Abend steckt ein kleiner Affe drin und schreit um sein Leben. Der Metzger zückt sein Sackmesser, zuckt nicht mit der Wimper und schneidet dem Affen die Kehle durch. Inzwischen hat der Schreiner schon eine halbe Hütte gebaut, aus Palmwedeln, Bambusstäben und Schwemmholz, mit Lianen zusammengeschnürt. Die Kindergärtnerin wiederum kann basteln. Sie fertigt aus Blättern Teller an; aus Muscheln macht sie Besteck, sie flechtet aus biegsamen Zweigen einen Korb zum Sammeln von Früchten, und aus Palmblattfasern bastelt sie ein kleines Fischernetz. Gleich beim ersten Versuch fängt sie damit einen Fisch, den der Metzger sogleich fachgerecht ausnimmt. Der Buchhalter hat nach zwei Tagen bereits eine professionelle Inventur der ganzen Insel gemacht: Baumbestand, ungefährer Tierbestand, ungefährer Fischbestand, Früchtesorten, aufgeteilt in essbare und nicht essbare, Trinkwasserquellen, durchschnittliche Abflussmenge pro Quelle, geteilt durch den durchschnittlichen Wasserverbrauch pro Person, ergibt die durchschnittliche Verbrauchsmenge pro Tag. Alles ritzt er fein säuberlich und tabellarisch auf einer Holztafel ein, mit einem Griffel, den ihm die Kindergärtnerin aus einem Knochen des toten Affen gebastelt hat. Die Bankangestellte leitet, in enger Zusammenarbeit mit dem Buchhalter, die Lebensmittelzuteilung. Jeder Fisch, jeder Affe und jede Frucht wird zuerst in der Lebensmitteldatenbank erfasst und mit einem Kalorienwert eingeschätzt. Dann werden sie wieder verteilt, gemäss täglichem Vitaminbedarf und Kalorienverbrauch, errechnet nach Grösse, Gewicht und körperlicher Leistung. Die Fallen funktionieren gut, die Früchte sind zahlreich, im Netz zappeln die Fische. Es bleiben regelmässig Lebensmittel übrig. Die kommen nach einer Idee der Bankangestellten ins Bonusprogramm. Wer etwas Ausserordentliches für die Gruppe leistet, bekommt einen Zusatzfisch. Oder eine Zusatzmango. Oder eine Zusatzaffenlende. Alle haben ihren Bonus. Der Schreiner für die Hütte und die Fallen. Der Metzger fürs Schlachten der Tiere. Die Kindergärtnerin fürs Basteln. Der Buchhalter für die Inventur. Die Bankangestellte für die Idee mit dem Bonusprogramm. Nur ich gehe regelmässig leer aus. Ich stehe meistens ein bisschen herum oder spaziere dem Strand entlang, zeichne mit dem Finger Muster in den Sand, schaue stumm aufs Meer hinaus oder versuche, die Bewegungen und Schreie der Affen zu imitieren. Gruppendynamisch ist das natürlich heikel. Vor allem, wenn es ums nackte Überleben geht. Andererseits sind alle froh, dass ich mich nicht mehr einmische, seit ich dem Schreiner beim Baumfällen fast den Arm gebrochen hätte, dem Metzger beim Schlachten in den Finger schnitt, dem Buchhalter die Rechnung durcheinanderbrachte, der Kindergärtnerin die Muschellöffel zerbrach und mich gegenüber der Bankangestellten abfällig über das Bonusprogramm geäussert habe.
Es vergehen einige Wochen. Eines prachtvollen Abends, die Sonne ist gerade blutrot im Meer versunken, sitzen alle satt und müde ums Feuer und schauen gedankenverloren in die Flammen. Aus dem Urwald klingt hin und wieder ein Tiergeräusch. Die Wellen schlagen sanft an den Strand. Auf einmal seufzt der Metzger tief und sagt: «Und jetzt die Fernbedienung in die Hand nehmen, einmal draufdrücken und einen guten Film schauen.» Alle nicken. «Oder ins Theater gehen», sagt die Bankangestellte, «oder zu Hause eine gute DVD einlegen, zurücklehnen und los gehts.» – «Oder ein spannendes Buch aufschlagen», sagt die Kindergärtnerin, «und so richtig in eine Geschichte eintauchen.» – «Oder ein Hörspiel», sagt der Buchhalter, «ich liebe Hörspiele!» Alle seufzen. Es ist lange still. Dann räuspere ich mich und sage: «Ich hätte da allenfalls etwas.» Alle drehen sich nach mir um. Und ich fange an zu erzählen.
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