Anju zieht den Stoff ihres Hemdes enger um ihren Körper. Sie fröstelt, dabei ist es Juni und längst warm genug, nur mit Hemd anstatt Jacke rauszugehen. Sie spürt nicht, dass es nieselt. Erst als sie den Wald erreicht, ihre Hände klamm sind, merkt sie, dass die Kleider an ihr kleben. Anju ist oft hier. Hier legt sie Devis Wörter hin und auch die Blicke ihrer Eltern. Sie legt sie auf ein Bett aus Moos. Sie stellt sich vor, dass sie die Stimme der Schwester und die Blicke der Eltern wie Schleimhaut aus sich herauszieht, ablegt und dann frei ist davon.
Im Wald ist das Licht dunkelgrün. Vielleicht liegt das am Regen, vielleicht auch an den Bäumen. Anju weiss das nicht, sie kümmert sich nicht um die Beschaffenheit des Lichts oder darum, was für Bäume hier wachsen. Sie weiss nichts von Fichten, Weisstannen, Lärchen, Waldföhren und Eschen. Sie interessiert sich nicht für die Bezeichnung der Dinge, überhaupt interessiert sie sich wenig für Wörter. Sie kommt wegen Devi her. Und auch wegen der Blicke der Eltern.
Sie sehen Anju an, wenn sie auf eine Antwort warten, wenn Anju jemanden begrüssen sollte und nichts sagt. Heute geht sie tiefer in den Wald hinein. Sie sucht neue Plätze, sie hat das Gefühl, die alten reichen nicht mehr. Devi erzählt ständig etwas, von der Party letztes Wochenende, von den Jungs, von Nino, von der neuen Jacke, sie ist dunkelviolett, wie Aubergine, Anjus Lieblingsfarbe. Anju friert nicht mehr. Der Nieselregen ist wie eine schwere Decke.
Sie geht vorsichtig, das Moos auf den Steinen ist rutschig, um sie herum tropft und schmatzt es. Aber sie geht weiter, auch weil ihre Eltern oder Devi niemals in einen Wald hineinlaufen würden, vom Weg ab, zwischen den Bäumen hindurch, das würden sie nicht tun. Sie hätten Angst vor den Ameisen, Spinnen, vor den Borken-, Bock- und Hirschkäfern, den Tausendfüsslern.
Und erst vor den Laubund Grasfröschen, den Kröten, Unken, Salamandern und Molchen. Auch diese Wörter kennt Anju nicht, aber sie weiss, wie ihre Schwester kreischen würde, würde sie eine Erdkröte sehen. Sie hätte eine ganz andere Stimme, als die, mit welcher sie Anjus Schule die «Scheissschule für Analphabeten» nennt, wenn sie fragt, ob sie sich da mit Grunzlauten verständigen oder mit Rauchzeichen. Jetzt ist sie beim grossen Felsen. Er ist so hoch wie ein kleines Haus oder vier Autos aufeinander.
Er ist ganz mit Moos bedeckt, wie von grünem Fell. Bis hierher kommt sie nicht oft. Die letzten Male hatte es stärker geregnet, der Regen war eine rauschende Wand, und da war sie früher wieder umgekehrt. Es war auch nicht nötig gewesen, bis zum Felsen zu gehen. Aber die violette Jacke hat sich die Schwester vom Zeugnisgeld gekauft. 100 Franken für das ausgezeichnete Zeugnis. Ausgezeichnet, dieses Wort liegt jetzt auf Anju, wie Moos. Aber es ist nicht dunkelgrün, es ist hell, so hell, dass sie die Farbe nicht erkennt.
Sie legt ihre Hände auf den felsigen Mooskörper. Wasser fliesst über ihre Hände, überall fliessen Rinnsale den Felsen hinab. An manchen Stellen ist das Moos schon weggewaschen. Das war noch nicht so, als sie das letzte Mal hier gewesen war. Ihre Hände werden kühl. Sie tastet den Felsen, das Moos ab. Rechts ist eine Erhebung, eine Falte zieht sich über die ganze Länge. Daneben ist ein Spalt. Als ob sich hier eine Felsschicht über eine andere geschoben hätte, wie ein Vorhang.
An dieser Stelle verschwindet das Wasser im Felsen. Es klingt anders hier, deutlicher, wie in einer kleinen Halle. Anju schaut in den Spalt hinein, versucht, etwas zu erkennen. Der nasse Fels schimmert im schwachen Licht. Ein seltsamer Geruch steigt aus dem Spalt, herb und schwer. Sie schiebt ihr Gesicht noch näher zum Spalt. So verharrt sie lange. Sie versucht, die Sätze ihrer Schwester und die Blicke ihrer Eltern in den Spalt zu legen, aber irgendwie gelingt es nicht. Trotzdem fühlt es sich gut an, in den Spalt zu schauen.
Erst als es eindunkelt, löst sie sich vom Felsen. Sie schaut ihn noch einen Moment an und rennt dann den ganzen Weg nach Hause. So lange ist sie noch nie im Wald gewesen. Anju geht seither jeden Tag bis zum Felsen. Sie erledigt die Hausaufgaben nach der Schule, isst etwas, wie in Trance, und läuft danach in den Wald. Am vierten Tag hat sich etwas verändert.
Es nieselt nur ganz leicht. Anju schaut in den Spalt. Wo sonst die Felswand schimmerte, ist es heller. Etwas leuchtet im Spalt, weiss oder hellgelb. Anju schiebt sich ein Stück die Felswand hoch. So kann sie in den Spalt hineingreifen. Sie tastet am feuchten Stein entlang, es ist angenehm kühl. Da stösst sie auf etwas Glattes. Es ist klein, und da, wo Anju es berührt, ist es rund. Die Berührung lässt sie erstarren. Es ist, als ob sie das Leuchten jetzt auf ihrer Hand spürte.
Sie vergisst den Regen, vergisst, dass sie bis eben immer noch versuchte, Devis Wörter und die Blicke ihrer Eltern in den Spalt zu legen, vergisst die Bäume und sogar den Felsen, in den sie hineinfasst. Sie fühlt, wie das Leuchten langsam in ihre Finger gleitet. Sie schiebt ihren Arm weiter in den Felsen, jetzt kann sie das runde Etwas ganz umassen. Es ist nicht überall rund, es hat auch Kanten, Spitzen und Löcher. Es ist länglich. Anju möchte näher hin, am liebsten würde sie in den Spalt hineinkriechen.
«Wer bist du?», fragt sie. «Bist du schon lange hier?» Sie lauscht. Im Wald rauscht es leise. «Du bist nicht aus Wörtern, oder?» Die Regentropfen sind weich. «Vielleicht bist du gar nicht wirklich hier. Oder nicht mehr.» Da weiss sie, was das Etwas ist. Es ist ein Knochen. Ein Schädel. Er ist klein und glattgewaschen. Anju weiss nicht, von welchem Tier er stammt. Aber das macht nichts, sie spricht mit dem Schädel, sagt ihm alle Wörter, die sie weiss.
Als sie keine mehr weiss, spricht sie weiter, wechselt die Sprache, von Deutsch auf Urdu, so viele Wörter sind in ihr, auch Wörter, die es nicht gibt, Silben in neuen Anordnungen. Als alles gesagt ist, schliesst Anju kurz die Augen und löst dann ihre Hand vom Schädel. Einen Augenblick schaut sie den Felsen an, dann macht sie sich auf den Heimweg. Es regnet kaum noch.
Zur Person
Gianna Olinda Cadonau ist 1983 in Indien geboren und im Engadin aufgewachsen. Sie hat Internationale Beziehungen in Genf und Kulturmanagement in Winterthur studiert. Bei der Lia Rumantscha ist sie für die Kulturförderung verantwortlich, und sie engagiert sich in verschiedenen Institutionen für die Kultur in Graubünden.
Sie schreibt Lyrik und Prosa auf Romanisch und Deutsch. Kürzlich erschien ihr erster Roman «Feuerlilie» (Lenos). Gianna Olinda Cadonau lebt mit ihrer Familie in Chur.