Carmen Stadler, 41, Filmregisseurin und Drehbuchautorin: «Menschen sind Wundertüten»
In ihrem ersten Spielfilm «Sekuritas» macht Carmen Stadler die Nacht zum Tag. Ein Gespräch über die Faszination der Dunkelheit.
Inhalt
Kulturtipp 16/2020
Babina Cathomen
Als die Zürcherin Carmen Stadler zum ersten Mal das ehemalige Fabrikgebäude der Firma Studer-Revox in Regensdorf besichtigte, war sie hin und weg: Die spiegelnden Glaswände, die glänzenden Böden, die Geräusche der Heizung oder des Wassertanks. An jeder Ecke sah und hörte sie bereits Filmbilder und Klangspuren. Es war der ideale Drehort für ihren Film «Sekuritas» (siehe Seite 15), in dem sich eine Wachfrau und andere Einsame in der Nacht...
Als die Zürcherin Carmen Stadler zum ersten Mal das ehemalige Fabrikgebäude der Firma Studer-Revox in Regensdorf besichtigte, war sie hin und weg: Die spiegelnden Glaswände, die glänzenden Böden, die Geräusche der Heizung oder des Wassertanks. An jeder Ecke sah und hörte sie bereits Filmbilder und Klangspuren. Es war der ideale Drehort für ihren Film «Sekuritas» (siehe Seite 15), in dem sich eine Wachfrau und andere Einsame in der Nacht in einem alten Bürogebäude begegnen.
«Die Dunkelheit bringt einen näher zu sich selbst»
«Ich wollte meine Geschichte nicht nur aus Sicht der Figuren, sondern auch aus der Sicht eines Orts erzählen – diesen Perspektivenwechsel fand ich spannend», sagt die 41-jährige Filmerin beim Treffen im lauschigen Gartencafé der Zürcher Hochschule der Künste. Hier hat sie nach einer Ausbildung im Fotofach Film und Video studiert und entdeckt, dass ihr nebst der Arbeit als Kamerafrau das Drehbuch-Schreiben und die Regie liegen. Seither hat sie einige kürzere Filmprojekte realisiert und mehrfach mit dem Autorenfilmer Clemens Klopfenstein zusammengearbeitet, mit dem sie die Faszination für die Nacht verbindet.
Mit ihrem ersten Spielfilm «Sekuritas» ist ihr ein kunstvolles Werk abseits des Mainstreams gelungen, das ohne viele Worte auskommt, dafür durch Bild, Licht, Ton und das körperbetonte Spiel der neu entdeckten Filmtalente Spannung schafft. «Ich will den Zuschauern nicht vorschreiben, was sie zu fühlen und zu denken haben, sondern die Möglichkeit zu Interpretationen offen lassen», sagt sie. Spannend finde sie, zu zeigen, welche menschlichen Facetten unter der Oberfläche liegen: «Ich sehe Menschen als Wundertüten.»
Auch die Nacht ist ein wichtiges Motiv in ihren Filmen, etwa in ihrem preisgekrönten Diplomfilm «Nachtflattern». «Die Dunkelheit bringt einen näher zu sich selbst – und sie fördert die Fantasie», ist Carmen Stadler überzeugt. Umso passender, dass «Sekuritas» jeweils in der Nacht gedreht wurde und das Filmteam aus dem Dunkeln Welten sichtbar machte: «Visuell ist die Dunkelheit irrsinnig attraktiv», sagt die Künstlerin. Im Film schafft sie eine traumartige Stimmung, in der Themen wie Sehnsucht und Sicherheit aus anderer Perspektive verhandelt werden. Zur Recherche hat sie eine Nacht lang Securitas-Leute begleitet, um einen Einblick zu erhalten in dieses Leben «zwischen Routinearbeit und Alarmbereitschaft», wie sie es ausdrückt.
Die Dunkelheit in unterschiedlicher Form begleitet Carmen Stadler auch in anderen Bereichen des Lebens: Etwa wenn sie bei Waldspaziergängen einen Platz mit Glühwürmchen entdeckt. Oder wenn sie ihrer Arbeit in der Blindenbibliothek nachgeht, wo sie als Aufnahmeleiterin die Sprecher betreut, die Zeitschriften wie den kulturtipp oder Bücher einlesen. «Was braucht es, damit Bilder sichtbar werden?», fragt sie sich auch hier. Und hinter allem steht wie in ihren Filmen die grosse Frage: «Wie kannst du mit wenigen Mitteln viel erzählen?»
Carmen Stadlers Kulturtipps
CD
Yusef Lateef: Eastern Sounds (Prestige 1961)
«Die Gleichzeitigkeit von Melancholie und Lebensfreude, magisch im Sommerschatten mit einer verspielten Brise.»
Buch
Minor Cinema. Experimental Film in Switzerland (JRP/Editions 2020)
«Lange erwartet, frisch erschienen. Ein anzuknüpfendes Stück Schweizer Filmgeschichte, das filmischen Sauerstoff bietet.»
Film-Kurs
Fabrikvideo
«Do it yourself! Für alle, die selber erste Filmerfahrungen sammeln möchten: Ein charmanter und professioneller Ort dafür ist das Fabrikvideo in der Roten Fabrik in Zürich mit Workshops, Kursen und Projektberatungen.»