In seinem opulenten Werk fächert Catalin Dorian Florescu zwei unterschiedliche Welten auf: Im New York von 1899 muss sich ein Waisenjunge mit Gesangstalent in der rauen Welt durchschlagen und bringt es vom hungernden Zeitungsverteiler zum singenden Kellner. Am anderen Ende der Welt, im von Armut geprägten Rumänien, zerschlagen sich die Träume einer jungen Fischerstochter: Sie wollte mit einem Mann nach New York auswandern, doch als bei ihr Lepra diagnostiziert wird, wird sie in eine abgeschottete Leprakolonie gebracht, wo sie fortan ihr Leben fristen muss.
Der Schweizer Autor mit rumänischen Wurzeln führt die zwei Geschichten zusammen: Viele Jahre später, am schicksalhaften 11. September 2001, treffen sich die Nachkommen der beiden Figuren in einem kleinen Theater in New York und erzählen sich die Geschichte ihrer Vorfahren, und was aus ihnen selbst geworden ist. Florescu postuliert für sich und seine Figuren die Kraft des Erzählens. Ganz der mündlichen Erzähltradition aus Osteuropa verpflichtet, holt er weit aus und beschreibt die Suche nach dem Glück mit Sinnlichkeit, Poesie und Empathie für die Dramen der kleinen Leute. «Ich lebe westlich, ich schreibe östlich», schreibt der Autor per Mail von der Leipziger Buchmesse und gibt einen Einblick in die Roman-Entstehung.
kulturtipp: Sie haben drei Jahre lang für den neuen Roman recherchiert und historisches Material gesammelt. Wie viel davon ist in den Roman eingeflossen?
Catalin Dorian Florescu: Ich verhalte mich während meiner Recherchen wie ein Schwamm, der alles aufsaugt, auch wenn ich weiss, dass ich nur wenig vom Material benutzen werde. Aber die ganze Arbeit war notwendig, es gibt nichts, was überflüssig war. Denn dieser Reichtum an Stoff, Wissen, Bildern führt dazu, dass ich mich in der Welt, die ich beschreiben möchte, fast wie zu Hause fühle. Das Niederschreiben der ersten Fassung dauerte dafür nur etwa sechs Monate.
Haben Sie in Archiven gestöbert, oder wo haben Sie recherchiert?
Zu diesem Kennenlernen aus verschiedenen Perspektiven gehören Bildbände, Zeitzeugenberichte, Gespräche, Geschichtsbücher, DVDs, Museen und mehrere Reisen nach Amerika sowie ins Donaudelta. Da die Handlung im Emigrantenghetto New Yorks 1899 beginnt, musste ich weit zurückgehen. Ich wollte erfahren, wie Manhattan – diese früher von dichtem Wald bedeckte Insel – vom Menschen verwandelt wurde in eine Metropolis, die alle Träume zu erfüllen verspricht … und es selten tut. Wie die Hunderttausenden von Emigranten aus Europa im Ghetto auf der Ostseite der Stadt lebten, woher sie kamen, was sie assen, wie sie sich kleideten, wie sie es schafften zu überleben – oder eben nicht. Parallel dazu habe ich mich mit der Geschichte der Massenunterhaltung beschäftigt, die um 1890 in Amerika begann.
Der zweite Erzählstrang spielt im Donaudelta. Wie viel von Ihren eigenen Erfahrungen der Kindheit und im Exil fliesst in den Roman ein?
Auch ins Donaudelta waren mehrere Reisen nötig, denn die Gegend, die weit im Osten Rumäniens liegt, war mir fremd. Ich stamme ja aus dem Westen des Landes, aus der weiten Ebene des Banats im Dreiländereck zwischen Serbien, Ungarn und Rumänien. Ein Leben mit dem Fluss, wie ich es im Roman erschaffe, war mir nicht vertraut. Ich bin doppelt so lange in der Schweiz, wie meine Kindheit in Rumänien gedauert hat. Das ist mehr als genug, um nicht mehr im Exil zu sein. Aber das Thema der Flucht und Glückssuche beschäftigt mich in jedem Roman. Es geht darin immer um die ewige Suche des Menschen nach einem Ort, wo er in Würde leben kann.
Ihre Figuren sind Anfang des 20. Jahrhunderts auf der Suche nach einem besseren Leben. Wo sehen Sie die Parallelen zu heutigen Flüchtlingsbewegungen?
Vor hundert Jahren zogen Millionen Europäer nach Amerika, jetzt ziehen Millionen zu uns. Europa wurde vor Jahrmillionen von «Afrikanern» besiedelt. Die osteuropäischen Juden flohen vor den Pogromen nach Amerika, die Iren und Italiener vor Hunger. Ihnen allen begegnete man mit grösstem Misstrauen und vielen Ressentiments, nicht anders als heute. Vieles, was damals in der US-amerikanischen Presse stand, hört man heute von den Rechtspopulisten bei uns. Die erste Generation hatte es am schwersten, aber die zweite und dritte schaffte es, das Ghetto zu verlassen. Durch eine verfehlte Politik bildeten sich seit den 60ern am Rande vieler europäischer Städte Ghettos, in denen meistens die «Fremden» wohnen, mit allen Nachteilen und Risiken. Die Lösung ist nicht Einbunkerung und Segregation, sondern Neugierde, Kontakt, Integration, so gut wie möglich von beiden Seiten. Ohne jedoch auf die Werte zu verzichten, auf denen die europäische Kultur fusst.
Buch
Catalin Dorian Florescu
«Der Mann, der das Glück bringt»
327 Seiten
(C.H. Beck 2016).
Lesungen
Di, 5.4., 19.15 Aargauer Literaturhaus Lenzburg
Mi, 6.4., 19.30 LibRomania Buchhandlung Bern
Do, 7.4., 19.30 Eisenbibliothek Schlatt TG (Festival «Erzählzeit ohne Grenzen»)
Do, 14.4., 19.00 Literaturhaus Basel
Fernsehen
Florescus neuer Roman im «Literaturclub»
Di, 5.4., 22.25 SRF 1