Zoé (Magda Drozd) steht an einem DJ-Mischpult und wendet sich zwischen zwei Tastenhieben an ihren früheren Peiniger: «Ich hab mich in Sicherheit gebracht, während du abstruses Zeug gebrüllt hast.» Oscar (Matthias Neukirch), der eine Art gigantische Krabbenschale aus orangefarbenem Stoff über der Schulter trägt, schreit: «Das hab ich ganz bestimmt nicht gemacht!» Zoé kontert trocken: «Hör auf zu trinken.» Oscar ist getroffen. Er sackt zusammen und versinkt in seinem Gehäuse.
Die Wirkung von intimen Briefen
Wir sind im Zürcher Pfauen, wo gerade die ersten Bühnenproben für «Liebes Arschloch» stattfinden. Darin geht es um den alternden Autor Oscar, der mit Zoés Vorwurf des sexuellen Übergriffs und dem entsprechenden Shitstorm konfrontiert wird. Er schreibt einer alten Bekannten, der berühmten Schauspielerin Rebecca (Karin Pfammatter), die er zunächst beleidigt und sich später bei ihr ausheult.
Rebecca selbst hat mit ihrer schwindenden Jugend und der entsprechend stockenden Filmkarriere zu kämpfen. «Stop! Can I try something else?», unterbricht die Regisseurin Yana Ross. Statt einem David-Bowie-Song kommen nun sinistre Elektrosounds zum Einsatz, Rebeccas ausgelassener Tanz zwischen Spiegeln wirkt irr, die Szene beklemmend. Ross nickt zufrieden. Die ehemalige Hausregisseurin kehrt mit «Liebes Arschloch» ans Zürcher Schauspielhaus zurück.
Der E-Mail-Roman der französischen Autorin Virginie Despentes ist kein leichter Stoff für die Bühne. Nach etwas langen Einstiegsmonologen lässt Ross die Figuren die Briefebene verlassen, zum Publikum, zueinander und in der Erinnerung der anderen sprechen. Besonders wirkmächtig ist das, wenn Rebecca und Oscar jeweils aus dem Brief vorlesen, den sie vom Gegenüber erhalten haben. Mit ihrer Stimme leihen sie dem anderen ihr Mitgefühl. Ross sagt: «Briefe sind interessant.
Wenn du einen Brief liest, hörst du die Stimme des Verfassers in deinem Kopf, und das ist sehr intim, ja sogar erotisch.» In Despentes’ Roman geht es jedoch vornehmlich um Freundschaften und ihre Fragilität.
Junkie oder Arbeitstier
Dieses Streben nach Verbindung zeigt sich auch in den Kostümen der Designerin Zane Pihlstrom. Die abstrakten orangen Anzüge mit ihren Wülsten und Schichten beengen und isolieren die Spielerinnen zunächst. Je weiter sie sich aber aus ihrer «Zwiebel pellen», wie es Ross formuliert, desto mehr Nähe entsteht zwischen ihnen. Wer Bindung will, muss sich verletzlich machen.
Schwäche zeigen die Figuren, indem sie sich ihre Sucht eingestehen. Sie sind süchtig nach Alkohol, Drogen oder – wie Zoé – nach Social Media. Weil die Sucht so zentral ist, hat Ross mit den Schauspielern das St. Galler Rehabilitationszentrum Lutzenberg besucht und mit Klienten und Ärztinnen übers Cleanwerden gesprochen. Ross sagt: «Drogen sind in Zürich ein grosses Thema, aber je nachdem, wer nach was süchtig ist, urteilt die Gesellschaft unterschiedlich.»
Rebecca bringt das auf den Punkt. Während Oscar hinter ihr Klappstuhl um Klappstuhl zu einem SelbsthilfeKreis aufstellt, sagt sie: «Wenn man die Drogen nimmt, die der Arzt einem verschreibt, ist man eine gute Arbeitskraft. Vielleicht ist es das, was der Junkie am Ende sucht – die Aufhebung seiner bürgerlichen Existenz.» Im Kreis der «Narcotics Anonymous» berichtet ein Teilnehmer vom Suizid seiner Tochter. Rebecca beschreibt einfühlsam, wie Oscar feststellt, dass ihm Tränen die Wangen herunterlaufen.
Der toxische Mann mit dem orangefarbigen Panzer sitzt nun ungeschützt und zusammengekauert da, und der auf dem Kostüm angebrachte Penis, den er vorher wie eine wertvolle Gürtelschnalle vor sich hergetragen hatte, ist kaum noch erkennbar. Doch nicht nur Rebecca und Oscar nähern sich an, indem sie ihre Schwächen zeigen. Auch Zoé ist Teil dieser Beziehung. Ross sagt: «Zoé ist die junge Frau, die im digita - len Raum lebt. Sie schreibt keine Briefe oder E-Mails, sie streamt.»
Deshalb komponiert sie auf der Bühne auch live Musik, während sie und Rebecca zwei unterschiedliche Formen von Feminismus vertreten und letztendlich voneinander lernen. Ross inszeniert «Liebes Arschloch» als kämpferisches, aber auch versöhnliches Stück. Der angeklagte Mann bekommt viel Platz, sein Charakter wird genau ausgeleuchtet. Es ist eine interessante Stückwahl fürs Zürcher Schauspielhaus, das in den letzten Jahren heftig kritisiert wurde für seine «woken, modernen» Inszenierungen.
Anstoss erregten unter anderem Yana Ross’ Live-SexSzenen bei «Interviews mit fiesen Männern». Trotz der friedlichen Botschaft von «Liebes Arschloch» hätten verschiedene Theater in Berlin das Despentes-Stück abgelehnt. «Sie hatten Angst davor, dass eine französische Autorin nicht genug Geld reinbringt», so Ross’ Interpretation.
Einladung zur Streitpause
Sie sei aber überzeugt, dass der französisch geprägte Kontext von MeToo auch in Zürich gut funktioniere, sagt Ross. «In Frankreich werden Frauen extrem sexualisiert, und im Text wird ja auch das im Vergleich zu England spät eingeführte Frauenwahlrecht thematisiert. Das kann das Schweizer Publikum sicher gut nachfühlen, hier kam es ja noch später.»
Aber auch die vergiftete Debatte und die Grabenkämpfe zwischen Feministinnen sind Schweizer Realität. Despentes’ Angebot, diese Diskussionskultur nicht als gegeben zu betrachten, besticht. Sie und Ross laden ein, eine Streitpause einzulegen und sich zu überlegen, was wirklich wichtig ist. Auf diese Frage hat Ross übrigens eine klare Antwort: «Am Schluss des Stücks sind alle drei am Leben.»
Liebes Arschloch
Premiere: Sa, 25.11., 20.00
Pfauen Zürich