«Ich möchte gerne einmal alles erzählen, von Anfang an bis zum Ende. Wenn ich mich nur nicht fürchten müsste, Sie zu langweilen.» Mit diesen Worten wendet sich der Erzähler im Stück «Transit» ans Publikum. Hier spricht die Figur aus dem gleichnamigen Roman von Anna Seghers (1900–1983). Die deutsche Schriftstellerin, die als Aushängeschild der DDR-Literatur galt, schrieb das Werk aufgrund eigener Erfahrungen. «Transit» entstand in den Jahren 1941/42 im Exil in Mexiko.
Identitätswechsel mit fatalen Folgen
Seghers setzte in ihrem Roman dem mexikanischen Konsulat in Marseille ein regelrechtes Denkmal. Dieses hatte rund 40 000 Flüchtlingen aus Deutschland und Österreich Aufenthaltsbewilligungen für Mexiko ausgestellt. Seghers gelang es dank dem Visum, ihren jüdischen Mann aus der Internierung zu befreien und mit ihrer Familie aus dem besetzten Frankreich auszureisen. Auch ihr namenloser Romanheld ist ein Flüchtender. Er ist vor den Nationalsozialisten nach Paris und dann nach Marseille geflohen, wo er die Identität eines toten Mannes annimmt. Hier lernt er Marie kennen, die in Marseille auf ihren verschollenen Mann wartet. Er verliebt sich in sie, doch dann stellt sich heraus, dass er ausgerechnet die Papiere von Maries Mann übernommen hat. Er verschweigt ihr jedoch die bittere Wahrheit, dass ihr Mann tot ist.
Katja Langenbach, neue Schauspieldirektorin am Luzerner Theater, hat aus Seghers’ Roman 2017 gemeinsam mit einem internationalen Team eine Bühnenfassung entwickelt, die Tanz und Theater verbindet. Nun zeigt sie das Stück in einer Wiederaufnahme im UG des Luzerner Theaters.
«Was hat das mit meinem Leben zu tun?»
Die Ensemble-Schauspielerin Anja Signitzer wird in der Rolle der Marie – der ewig Wartenden und Hoffenden – zu sehen sein. Die Erzähler-Figur, die im Stück Franz heisst, wurde auf drei verschiedene Schauspieler aufgeteilt. Eigens konzipierte Kompositionen, bei denen das Cello dominiert, untermalen die Handlung. Bühne und Kostüme (Hella Prokoph) verweisen auf Ort und Zeit: Grosse Fischernetze evozieren das maritime Marseille, stehen aber auch sinnbildlich für die Situation der Flüchtenden, die sich in falschen Hoffnungen verheddern oder jederzeit eingefangen werden können.
Auslöser für Katja Langenbachs Bühnenversion war die Flüchtlingssituation von 2015. «Es ist erschreckend, wie aktuell das Thema jetzt mit Afghanistan wieder geworden ist», sagt sie. In «Transit» gehe es um die unermüdliche Suche nach Identität, die Flüchtenden oftmals abhandenkommt. «Franz findet seine Identität durch die Liebe wieder», so die Regisseurin, die den Fokus auf die Zweierbeziehung zwischen Franz und Marie legt. Dass es bei «Transit» um flüchtende Europäer gehe, sei eine gewisse Umkehrung der heutigen Situation. Sie erlaubt es den Zuschauern, sich zu fragen: «Was hat das mit meinem Leben zu tun?» Die Geschichte deshalb heute spielen zu lassen, kam für Langenbach jedoch nicht infrage. Theater sei immer heutig und brauche deshalb keine zwanghafte Aktualisierung. «Ausserdem hilft eine gewisse Distanz, die Gegenwart zu entschlüsseln», ist sie überzeugt.
Transit
Premiere: Sa, 6.11., 20.00 Luzerner Theater
www.luzernertheater.ch
Film: Ein teuflischer Plan
Die tunesische Regisseurin Ben Hania Kauther verlinkt in ihrem Film «The Man Who Sold His Skin» die Flüchtlingssituation mit einer brisanten Kapitalismuskritik. Im Mittelpunkt steht ein syrisches Liebespaar, das auseinandergerissen wird. Abeer wird an einen Diplomaten verheiratet und reist mit ihm nach Brüssel. Sam (Yahya Mahayni, Bild) will ihr nachreisen, ist als «syrischer Flüchtling» aber chancenlos. Er sitzt in Beirut fest, nachdem er zur Revolution gegen das Assad-Regime aufgerufen hat und fliehen musste. Da lernt er Jeffrey Godefroy kennen, der ihm einen so genialen wie teuflischen Deal anbietet. Godefroy will Sam zum Kunstwerk machen, indem er ihm ein Schengen-Visum auf den Rücken tätowiert. Sam willigt ein, bekommt ein Visum und kann nach Brüssel reisen. Das Wiedersehen mit Abeer verläuft jedoch ernüchternd. Weit schlimmer aber ist der Umstand, dass er sich verpflichtet hat, sein Leben fortan als «Kunstwerk» zu verbringen. «Handelsgütern stehen heute alle Grenzen offen, Menschen aber nicht», kommentiert Jeffrey Godefroy sein geniales Kunstwerk. Diese Aussage führt die Filmemacherin ad absurdum.
Film
The Man Who Sold His Skin
Tunesien 2021, 104 Minuten
Im Kino
Literatur: Sehnsucht nach Afghanistan
Dieser autobiografische Roman berührt umso mehr angesichts der aktuellen Lage in Afghanistan, wo die Menschen nach der Machtübernahme der Taliban auf sich alleine gestellt sind. Enaiatollah Akbari (Bild, links) erzählt darin seine Lebensgeschichte: Als Zehnjähriger musste er 1999 seine Familie und seinen Heimatort verlassen und sich alleine durch-schlagen. Er gehört zur Ethnie der Hazara, die seit Jahrzehnten diskriminiert, verfolgt und ermordet werden. Im norditalienischen Turin findet er eine neue Heimat, macht ein Studium in Politologie und sehnt sich doch immer nach seiner Familie in Afghanistan. «Im Winter Schnee, nachts Sterne» ist die Fortsetzung des Bestsellers «Im Meer schwimmen Krokodile», in dem der italienische Autor Fabio Geda (Bild) Enaiatollahs Flucht schildert. Den neuen Roman haben die beiden zusammen geschrieben. In poetischen Worten, aber auch humorvoll erzählen sie, wie Enaiatollah vorübergehend in seine Heimat zurückkehrt und dort gar seine grosse Liebe findet. Die absurden Hürden der Bürokratie, um an ein Visum zu gelangen, sind im Buch genauso Thema wie die von Gewalt geprägte Geschichte Afghanistans. Geda und Akbari liefern keine politische Analyse, aber ein sehr persönliches Buch, das viel Wissen zum Leben in Afghanistan vermittelt und beschreibt, wie sich das Exil anfühlt.
Buch
Fabio Geda/Enaiatollah Akbari
Im Winter Schnee, nachts Sterne – Geschichte einer Heimkehr
(C. Bertelsmann 2021)