Das Theater hat mit Zuschauerschwund zu kämpfen. Wie wollen Sie die Menschen wieder fürs Theater begeistern und ein neues Publikum dazugewinnen? Und inwieweit wagen Sie dabei Experimente?
Neumarkt
Julia Reichert: Mit Künstlerinnen, Überzeugungstätern und Projekten, an die wir glauben und die etwas erreichen wollen. Und mit einem durchaus naiven Glauben daran, dass eine Gesellschaft Orte braucht, wo man vorurteilsfrei miteinander spielen, lieben, streiten…
Tine Milz: … und sich verletzbar zeigen kann. Ein Theater des ernst gemeinten Dialogs. Und eines, das sich exponiert.
Hayat Erdogan: Ausserdem sind wir keine Zielgruppenfängerinnen, deren Aufgabe es ist, möglichst quantitativ orientiert Zuschauerzahlen zu generieren. Ich glaube daran, dass man niemanden für etwas begeistern kann, wenn man selbst nicht begeistert ist.
Schauspielhaus
Nicolas Stemann: Begeisterung entsteht aus dem Clash aus Bekanntem und Unbekanntem. Theater, das begeistern will, muss experimentell sein. Niemand, wirklich niemand will gelangweilt werden. Denken kann Spass machen.
Gessnerallee
Michelle Akanji, Rabea Grand, Juliane Hahn: Indem wir im kommenden Jahr, während wir das Programm für die erste Spielzeit entwickeln, den Menschen in der Stadt zuhören, statt von Anfang an Themen und vor allem Formate zu setzen. Wir freuen uns auf diese Gespräche – mit Kunstschaffenden, die im Moment vielleicht noch gar nicht ahnen, dass wir uns begegnen werden. Und ja, wir verstehen uns als Labor, das Experimente in kuratorischen, künstlerischen, aber auch organisatorischen Formen wagt.
Sie wollen «Theater für die Stadt» machen. Was heisst das konkret? Wie wollen Sie den Austausch mit dem Publikum herstellen?
Neumarkt
JR: Wir machen auch Theater für Tiere, Pflanzen und Algorithmen. Und für Instagram.
Und für Hayats Eltern. Aber ernsthaft: Ein städtisches Theater, das nicht «für die Stadt» sein will, wäre auch eine etwas paradoxe Unternehmung. Das Publikum entscheidet selbst, wie stark es in Austausch tritt. Die Leute sind auch klug genug zu merken, wo sich Institutionen anbiedern.
TM: Ausserdem gibt es für Resonanz keine Rezepte. Uns sind Offenheit, Gastgeberschaft und die Bereitschaft, sich wirklich aufeinander einzulassen, wichtig.
HE: Unser Saal ist klein und intim, unsere Bar lädt ein, mit uns ins Gespräch zu kommen, unser Programm enthält auch Formate wie etwa unsere Theorie-Lesegruppe ab Oktober, bei denen man ganz organisch in einen Austausch kommt.
Schauspielhaus
Wenn man bei Wikipedia «Energieübertragung» eingibt, liest man von einem «Austausch von Energie über eine Systemgrenze hinweg». Das beschreibt ziemlich gut das Ziel unseres Theaters.
In der Praxis des Wärmetauschs gibt es die Grundformen Gegenstrom, Gleichstrom, Kreuzstrom und Wirbelstrom, bei dem alles durcheinandergewirbelt wird – was auch sehr schön sein kann. Am effektivsten scheint interessanterweise eine Kombination dieser Grundformen zu sein, der sogenannte Kreuzgegenstrom: Die Stoffe strömen hier miteinander wie gegeneinander, was einen maximalen Austausch zur Folge hat. Auf ähnliche Art findet auch der Austausch zwischen Theater und Publikum statt: kreuz-/gegenstromförmig und über Systemgrenzen hinweg.
In den drei Theaterhäusern werden Kollektive am Ruder sein – mit welchen Vor- und Nachteilen?
Neumarkt
JR: Kollektive sind eine Zumutung. Die Komplexität der Welt auch, das passt ganz gut. Beide zwingen einen zur andauernden Aushandlung und zur geistigen Beweglichkeit.
Und unser Vorteil dabei: Im Neumarkt sitzt die kollektive Tradition ohnehin tief im Gebälk.
HE: Der eigene Horizont wird grösser, die eigene Position wird befragt. Man lernt voneinander, man verlernt aber auch vieles, das meine ich nicht unbedingt negativ. Was ist verkehrt daran, das Konzept von unhinterfragter Dominanz und Deutungshoheit zu verlernen?
TM: Man trifft Entscheidungen nicht alleine – im Guten wie im Schlechten. Viele Diskussionen, viele Stimmen. Der Dissens, der im besten Fall produktiv macht.
Schauspielhaus
Vorteil: Man muss nicht alles alleine machen.
Nachteil: Man kann nicht alles alleine machen.
Vorteil: Es ist halb so viel Arbeit.
Nachteil: Es ist doppelt so viel Arbeit.
Vorteil: Man muss nicht alles alleine entscheiden.
Nachteil: Man kann nichts mehr alleine entscheiden.
Vor-/Nachteil: Man spricht mit vielen Stimmen.
Fazit: Es überwiegen klar die Vorteile.
Gesnerallee
Ein vielstimmiges Theater braucht mehr als eine Entscheidungsträgerin. Die Zeit der Einzelkämpfer ist definitiv vorbei! Wir können an drei verschiedenen Orten gleichzeitig sein, mehr Eindrücke und Argumente für Entscheidungen sammeln. Zeitsparend ist das (zumindest vorerst) aber trotzdem nicht unbedingt. Wir haben das Glück, uns aktuell noch genügend Zeit nehmen zu können, um diese Inputs miteinander zu diskutieren.
Die drei Theaterhäuser gehen in eine ähnliche Richtung: Sie setzen auf ein Kollektiv als Leitungsteam, auf neue ästhetische Positionen, sie hinterfragen traditionelle Theaterstrukturen und wollen sich einem breiteren, auch internationalen Publikum öffnen. Wie heben Sie sich voneinander ab?
Neumarkt
JR: Was wäre die Alternative: rückwärtsgewandtes Theater für einen kleinen, elitären Kreis, gemacht von einem, der eben weiss, wie es geht? Die Gesellschaft hat sich längst verändert, hierarchische Leitungsmodelle sind – nicht nur im Theater – nicht mehr zeitgemäss. Und es spricht für Zürich, dass sich das auswirkt.
HE: Und wieso denn überhaupt dieser Wettstreit-Gedanke? Geht es denn nur darum, dass man sich möglichst klar von sogenannten anderen abgrenzt? Wir können ja an der aktuellen politischen Abschottungsrhetorik sehen, wohin das führt. Wir möchten dem eher etwas anderes entgegensetzen. Warum denn nicht miteinander und gemeinsam etwas tun?
Schauspielhaus
Wir haben keine Zeit, uns von irgendwem abzuheben – wir wollen abheben!
Gesnerallee
Das ist doch hervorragend! Endlich verändert sich etwas. Wir sehen da keine Konkurrenz, nur Verbündete.
Neumarkt
Auftakt in die Theatersaison
They Shoot Horses, Don’t They?
Premiere: Mi, 18.9., 19.30 Neumarkt Zürich – www.theaterneumarkt.ch
Schauspielhaus
Auftakt in die Theatersaison
Eröffnungsfestival vom Mi, 11.9.–So, 15.9.
Schauspielhaus Zürich – www.neu.schauspielhaus.ch
Gessnerallee
Auftakt in die Theatersaison (noch unter alter Leitung)
Unheimliches Tal (Rimini Protokoll)
Premiere: Do, 5.9., 20.00 Gessnerallee Zürich – www.gessnerallee.ch