Eine Begegnung zwischen zwei Fremden, eine Berührung, eine Live-Geschichte, Theater hautnah: Was Corona lange verhindert hat, macht das Theaterfestival Auawirleben nun wieder möglich. Zum Beispiel mit der 15-minütigen Performance «As far as my fingertips take me» des Musikers und Strassenkünstlers Basel Zaraa, die von der libanesischen Künstlerin Tania El Khoury kreiert wurde. Zaraa wurde in einem Camp für palästinensische Flüchtlinge in Syrien geboren und erzählt auf besondere Weise die Geschichte seiner Schwester, die von Damaskus nach Schweden geflüchtet ist: Als Zuschauerin tritt man in einen Raum, nimmt auf der einen Seite der Wand Platz, setzt Kopfhörer auf und streckt durch ein Loch den Arm auf die andere Seite. Dort sitzt Basel Zaraa und zeichnet mit feinen Pinselstrichen die Geschichte einer Flucht auf den Arm. Im Ohr erklingen Möwengeschrei und Wellenrauschen, arabische Flötenklänge und die Stimme des Künstlers, der zu Beginn jede einzelne Fingerkuppe der Zuschauerin in ein Stempelkissen drückt. So wie auch die Fingerabdrücke von Migranten in einer europäischen Datenbank erfasst werden.
Von der Installation bis zum klassischen Theater
Basel Zaraa erzählt von Menschen auf der Flucht, berichtet davon, wie das Leben von der Vertreibung geprägt ist. Zurück bleiben die Pinselstriche auf dem Arm. Seine Geschichte lässt sich leicht abwaschen, aber im Gedächtnis bleibt sie haften.
Performances wie diese prägen das Berner Festival Auawirleben. Auf dem Programm stehen die verschiedensten Theaterformen, von der Installation bis zum klassischen Theaterstück, zugänglich auch für Menschen mit Beeinträchtigungen. Das kreative Festivalteam rund um Nicolette Kretz hat sich für diese Ausgabe coronabedingt Besonderes einfallen lassen. So gibt es im Digitalprogramm etwa ein Live-Theater-Game des Berliner Kollektivs machina eX für zu Hause, wo man am Computer in Live-Performances und Chats eine Geschichte erkunden kann. 100 Prozent pandemiekompatibel ist auch «Aua in a Box»: Theaterbegeisterte können sich ein Paket mit zwölf kleinen künstlerischen Angeboten nach Hause schicken lassen und erhalten ab Festivalbeginn täglich Anregungen zum überraschenden Box-Inhalt.
Gesellschaftsthemen, die unter den Nägeln brennen
Vieles kann nach den Öffnungen der Theaterhäuser nun aber tatsächlich live stattfinden. Und durch die geringe Zuschauerzahl und die neu kreierten Formate ist oft gar ein intensiverer Austausch zwischen Publikum und Kunstschaffenden möglich. Eins-zu-eins-Performances wechseln sich ab mit frei begehbaren Installationen oder partizipativen Formaten, bei denen die Zuschauer Teil des Stücks werden.
Verhandelt werden bei Auawirleben stets Gesellschaftsthemen, die unter den Nägeln brennen. So wie das Stück «Unheimliches Tal» von Stefan Kaegi und dem Kollektiv Rimini Protokoll. Auf der Bühne steht ein lebensechter Roboter. Die menschliche Maschine vertritt den Schriftsteller Thomas Melle und hält einen Vortrag über das «Uncanny Valley»: So nennt man das Unbehagen, das ein Mensch verspüren kann, wenn ihm eine allzu menschenähnliche Gestalt begegnet. Wie schneidet der Roboter mit seiner perfekten Performance wohl ab im Vergleich zum Menschen mit all seinen Fehlern und Schwächen, seinen guten und schlechten Tagen?
Auawirleben
Mi, 5.5.–So, 16.5.
www.auawirleben.ch
Reservation empfohlen
Die Aua-Box kann bis am So, 2.5., bestellt werden.
4 Fragen an Festivalleiterin Nicolette Kretz
«Die Krise hat uns zwangsläufig zu kreativen Ideen gepusht»
kulturtipp: «Stepping Out» lautet das Festivalmotto und bezieht sich auf das Verlassen des gewohnten Wegs, wie wir es aktuell alle erleben. In welcher Form zeigt sich dieses Thema im Programm?
Nicolette Kretz: Die verschiedenen Programmpunkte beleuchten das Festival alle aus unterschiedlichen Perspektiven. Bei der Produktion «Past Perfect» geht es etwa um Wiederholung von Geschichten oder Bewegungen und um die kleinen Abweichungen, die bei jeder Wiederholung passieren. Und die Performance «Will you marry me?» verhandelt die Frage, ob legal immer auch gleich moralisch ist und illegal immer unmoralisch. Aber auch mit dem Festival selber verlassen wir die gewohnten Bahnen, etwa indem wir Projekte im öffentlichen Raum zeigen.
War die Corona-Zeit trotz Einschränkungen für das Festival auch eine Chance, neue kreative Formate zu entwickeln und digital ein breiteres Publikum zu erreichen?
Ja, klar, die Krise hat uns zwangsläufig zu kreativen Ideen gepusht. Nebst den Live-Veranstaltungen gibt es auch ein Festival für zu Hause: «Aua in a Box». Wer es bestellt, erhält per Post eine Schachtel mit zwölf Umschlägen und täglich per Text-Nachricht eine Anweisung. Dass das Festival so nicht mehr ortsabhängig ist, ist ein spannender Nebeneffekt. Dieses Jahr fliegt «Aua in a Box» sogar nach Kanada!
Wir haben ein Jahr der Distanz hinter uns. Kann Theater diese überwinden, und ist das Publikum mit den neuen Formaten vielleicht sogar näher dran an den Künstlern als gewöhnlich?
Es kommt uns dieses Jahr zugute, dass wir viele kleine Formate im Programm haben, bei denen es zu keinen grossen Menschenansammlungen kommt. Es ist tatsächlich so, dass diese oft eine intimere, persönlichere Atmosphäre schaffen, die wir sehr schätzen. Uns gefällt es, wenn das Publikum sich sehr direkt angesprochen fühlt und – gedanklich oder manchmal auch aktiv – involviert ist. Damit ist nicht klassisches Mitmach-Theater gemeint, sondern Formate, bei welchen man als Zuschauerin mit einer Künstlerin ins Gespräch kommt, wie zum Beispiel beim Tattoo-Projekt «Untitled#».
Werden die zahlreichen internationalen Künstler anreisen können? Welche Herausforderungen stellen sich trotz Theateröffnungen?
Die Künstler haben uns alle bestätigt, dass sie anreisen werden, obwohl sie zum Teil in Kauf nehmen müssen, dass sie nach der Rückreise in ihr Heimatland in Quarantäne müssen. Das freut uns riesig, und es zeigt wohl, wie sehr sie das Auftreten vermissen. Für die meisten ist es der erste Auftritt seit Monaten. Leider hat sich nun herausgestellt, dass wir keine Beiz in unserem Festivalzentrum auf dem Waisenhausplatz betreiben dürfen, obwohl diese schon immer im Freien angedacht war. Schade, aber es wird wohl so oder so ein etwas anderes auawirleben werden. Und dass anders auch mal gut sein kann, haben wir im letzten Jahr ja alle auch gelernt.