Bühne - Risse in der Dorfgemeinschaft
Osteuropa steht im Zentrum des diesjährigen Zürcher Theaterspektakel – etwa der ungarische Theatermacher Béla Pintér mit seiner grotesken Farce «Miststück».
Inhalt
Kulturtipp 17/2012
Babina Cathomen
In Ungarn ist es ungemütlich geworden für Theatermacher. Seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Fidesz-Partei 2010, die das Neue Theater in Budapest mit zwei Rechtsextremen an der Spitze besetzte, sind die künstlerischen Freiheiten und die finanziellen Mittel eingeschränkt. Davon kann Béla Pintér, der 42-jährige preisgekrönte Regisseur aus der freien Theaterszene, ein Lied singen. Er tut es, indem er in seiner Produktion «Miststü...
In Ungarn ist es ungemütlich geworden für Theatermacher. Seit dem Wahlsieg der nationalkonservativen Fidesz-Partei 2010, die das Neue Theater in Budapest mit zwei Rechtsextremen an der Spitze besetzte, sind die künstlerischen Freiheiten und die finanziellen Mittel eingeschränkt. Davon kann Béla Pintér, der 42-jährige preisgekrönte Regisseur aus der freien Theaterszene, ein Lied singen. Er tut es, indem er in seiner Produktion «Miststück» Themen wie Rechtsextremismus und das wacklige soziale Gesellschaftsgefüge anspricht.
Rassistische Vorurteile
Es beginnt wie im Märchen: Das Bauern- und Bäckerpaar Irén und Attila wünscht sich ein Kind. Da es selbst keine bekommen kann, nimmt es zwei arme Waisenmädchen bei sich auf. Damit beginnt ein Albtraum, denn Rózsi und Anita sind keine herzigen Kleinkinder, sondern zwei aufmüpfige Teenager in Stringtangas. Durch vorstehende Zähne entstellt die eine, Roma-Mädchen die andere. Keine guten Voraussetzungen für einen glücklichen Start in der Dorfgemeinschaft der ungarischen Provinz, wo rassistische Vorurteile gegenüber der ethnischen Minderheit herrschen. Und das Unheil nimmt seinen Lauf. Das Roma-Mädchen Anita wird des Diebstahls angeklagt und zu allem Übel auch noch von ihrem Stiefvater schwanger. Rózsi kompensiert die fehlende Liebe mit dem Beitritt zur rechtsextremistischen «Ungarischen Garde». Und das Märchen nimmt die schlimmstmögliche Wendung: Rózsi, als Hexe stigmatisiert und zum Sündenbock bestimmt, wird von ihrem Stiefvater im Ofen verbrannt.
Schwere Kost, die Béla Pintér seinem Publikum serviert: Allerdings macht er das in seinem ganz eigenen Stil. Der Tragödie mixt er Satire, Parodie, Tanz und Poesie bei – und viel traditionelle Musik. Auf einem Hochsitz thront während der ganzen Aufführung ein Hirtenflötenspieler, der die Inszenierung mit un-garischen Volksweisen untermalt. Folklore, um die Risse zu kitten, die sich in der Dorfgemeinschaft nach und nach auftun? Pintér bricht ironisch mit dem urtümlichen ungarischen Leben. Seine politische Allegorie setzt er mit schwarzem Humor um, der bisweilen in trashige Überhöhung kippt. Staatliche Autoritäten wie etwa Ärzte treten bei Pintér auf der kargen Bühne gesichtslos, in grotesken Masken auf.
Am Familienkonflikt habe ihn besonders die Verwandlung von Rózsi in eine Anhängerin der «Ungarischen Garde» interessiert, sagte Béla Pintér in einem Interview mit der Zeitschrift «Theater der Zeit». «Für die Familie kommt das so unerwartet, wie die Rechtsextreme für die ungarische Gesellschaft nach 1989 unerwartet kam.»
Die raue Rózsi, die sich nach zahlreichen Enttäuschungen rechtsradikalem Gedankengut zuwendet, ist denn auch das titelgebende «Miststück»: Sie gibt ein Beispiel ab für den aktuellen Rechtsruck in Ungarn. Gleichzeitig wird sie aber auch zum Opfer einer Gesellschaft, in der Menschen mit ihren Vorurteilen zu Monstern mutieren können.
Kreatives Spiel mit Fremdem und Vertrautem
Aktuelle politische und gesellschaftliche Zustände sind auch am 33. Zürcher Theaterspektakel wieder ein Thema: Über 30 Theater-, Tanz-, Musik- und Zirkusproduktionen aus vier Kontinenten sind zu sehen. Den Fokus richten die Veranstalter auf Osteuropa. So lädt etwa die Choreografin Constanza Macras Roma verschiedener Generationen und Länder auf die Bühne: In ihrem Stück «Open for Everything» verwebt sie die Roma-Kultur mit zeitgenössischem Tanz. In der Produktion «Hier spricht der Chor» unter der Regie der Polin Marta Gornicka brechen 25 polnische Frauen mit den traditionellen Geschlechterklischees.
Das zweite Motto «Gegenüberstellung» soll zum «kreativen Spiel mit Gegensätzen und Vorurteilen» reizen, wie Festivalleiter Sandro Lunin im Programm schreibt. Und es soll als «Anstoss zur Hinterfragung eigener Positionen» dienen. Vertreten ist etwa die schweizerisch-iranische Truppe Mass & Fieber & Don Quixote, die sich zum Tell-Mythentausch trifft (siehe kulturtipp 15/12).