In der alten Reithalle in Aarau ist eine wüste Schlägerei im Gang. Mit Mistgabeln und Gebrüll gehen die Frauen und Männer aufeinander los, Tische und Stühle poltern zu Boden. Ein zappelnder Bub steckt kopfvoran in einer Milchkanne, einer haut dem andern einen Käselaib über den Kopf. «Wot öpper es Schnäpsli?», brüllt die Wirtin. Für kurze Zeit herrscht Ruhe, alle kippen ihre Schnapsgläser, bis sie sich wieder aufeinander stürzen.
Keine Idylle
In Gotthelfs Roman «Käserei in der Vehfreude» von 1850 herrscht keine Emmentaler Idylle mit friedlichem Kuhglocken-Geläute. Auslöser für den Zwist ist der Entscheid der Vehfreudiger Bauern, eine Käserei statt eines neuen Schulhauses zu bauen. Sie wollen mithalten mit den Nachbarorten, die vom Käseboom profitieren.
Die neu gegründete «Genossenschaft zwecks Herstellung von Käse» birgt aber Risiken: Denn die Bauern liefern minderwertige Milch, betrügen sich gegenseitig, beuten ihr Vieh aus und verfallen der Geldgier. Zum Dorfstreit kommen persönliche Konflikte: Etwa die schwierige Liebesgeschichte zwischen dem Verdingmädchen Änneli und Felix, dem Sohn des Ammanns. Oder die Intrigen der missgünstigen Eisi, die mit schwarzer Magie das Bethi «totbeten» möchte. Und der Eglihannes betreibt Betrügereien im grossen Stil. Als die Dörfler dies bemerken, kommt es zum Aufruhr, und sie schlagen sich gegenseitig die Köpfe ein. Und die Moral der Geschichte, die bei Gotthelf nicht fehlen darf: Der Käse ist ein kollektives Produkt, dessen hohe Qualität nur gewährleistet ist, wenn jeder Einzelne der Dorfgemeinschaft gute Milch beisteuert.
Die Regisseure Gunhild Hamer und Nils Torpus versetzen den Emmentaler Bauernroman in die weiten Räume der alten Reithalle Aarau. Hierhin haben sie regionale Produzenten eingeladen, die ihre Erzeugnisse vor und nach der Aufführung feilbieten – von Bioforellen über Emmentaler Käse bis zum Most.
Kampf um Käse
Während der Inszenierung integriert sich der Bauernmarkt in das Stück. Die einzelnen Marktstände werden je einem Bauernhof zugeordnet, wo sich die kleinen und grossen Dramen der Vehfreudiger abspielen. In der Mitte der Halle thront ein grosser Kessel: Hier wird der Aargauer Käser Elmar Schmid live seinen Käse produzieren, während um ihn herum der Kampf um den besten Käse tobt.
Beim Probenbesuch herrscht ein wildes Durcheinander im 14-köpfigen Schauspielteam mit Profis des Aarauer Theaters Marie und Laien des Reinacher Theaters TaB: Ein Schauspieler setzt sich auf seinen umgeschnallten Melkstuhl, ein anderer zündet einen Stumpen an. Handorgel-Klänge mischen sich mit dem Plätschern eines Brunnens. Eine authentische Atmosphäre, Schweiz pur.
Oder doch nicht? Das Stück stellt die Frage nach Identität und Heimat: Was stimmt an diesem Bild der urchigen Schweiz, was nicht? «Unsere Produk-
tion ist ein Ausbalancieren zwischen Volkstheater und modernem Theater», sagt Regisseur Nils Torpus, der auch in der Rolle des Bösewichts Eglihannes zu sehen ist. Vor Folklore scheuen die Theatermacher nicht zurück, die Betonung liegt allerdings auf der Echtheit. «Es passt, wenn Elmar seinen Käse produziert und dazu jodelt, wie er das auch sonst tut. Oder wenn die Forellenverkäuferin wie immer in ihrer Tracht am Marktstand steht. Das hat eine Selbstverständlichkeit, die natürlich rüberkommt, die aber bei uns Theatermachern lächerlich wirken würde», meint Nils Torpus.
Reale Bauernwelt
Vor allem stehen aber Käse und Landwirtschaft im Mittelpunkt, betont er. «Es geht auch um eine Auseinandersetzung mit der ökonomischen Situation des heutigen Bauernstandes», ergänzt Regisseurin Gunhild Hamer. Die gotthelfsche Fiktion mischt sich mit der realen Welt der heutigen Bauern: «Schon damals mussten sich die Bauern etwas einfallen lassen, um zu überleben. Und auch die Frage der Expansion stand bereits früher im Raum.»
Bis vor kurzem hatten die Theatermacher mit landwirtschaftlichen Themen nichts am Hut, nach der langen Vorbereitung zum Stück und der Zusammenarbeit mit den Bauernvereinen sind sie nun fast selbst zu Profis geworden. Und sie haben vollstes Verständnis, wenn Käser Elmar nicht zu den Theaterproben erscheint, weil Heuwetter ist oder eine Kuh kalbt. «Das ist eine andere Gewichtung, die richtig wohltuend ist», sagt Torpus.
Das Ausloten von Gotthelf-Zeit und Moderne zeigt sich auch in der Sprache: Ein Erzähler spricht Passagen aus dem Roman in der Original-Sprache, die Figuren hingegen reden in ihrem eigenen Dialekt – von Berner bis zu Aargauer Mundart.
Nebst dem Schauspiel arbeiten die Theatermacher mit weiteren Mitteln: Musik mit Handorgel, Geige und Kuhglocken unterstützen die Handlung. Dazwischen sind Videoeinspielungen zu sehen, die dem Stück einen dokumentarischen Touch geben: Eine Kamera filmt direkt in Elmar Schmids Käsetopf, sodass sich sein Handwerk aus nächster Nähe mitverfolgen lässt. Und Kenner wie der Maître Fromager Rolf Beeler sprechen über die Käseproduktion und erörtern Fragen wie: «Gibt es heute noch gepanschte Milch wie zu Gotthelf-Zeiten?» Auch Diaprojektionen, inspiriert von den romantisierenden Gotthelf-Filmen von Franz Schnyder, haben ihren Platz: Die zelebrierte Folklore kann hier ein weiteres Mal auf ihre Echtheit überprüft werden.