Da stehen sie und glotzen. Eine Frau und zwei Männer in Winterklamotten. Silberne Jacke, Skibrille, eine übergrosse Mütze, die aus der Mode gekommen ist, dazu monotoner Techno, aus älteren Tagen. Zwischen ihnen flimmern elf Fernseher, und Kabelbäume wuchern. Dazu kommen eher überraschend drei bunte Telefone mit Drehschreiben, wie man sie bis in den 80ern in jedem Haushalt fand.
Lockere Atmosphäre im Probenraum
Eine Bundesrätin telefoniert mit ihrem «Schatz», der Sekretär lauscht an einem Apparat im Nebenzimmer unbemerkt mit.Plötzlich sagt der Schatz mit eindringlicher und dennoch leiser Stimme: «Dein Puls ist hoch. Ich höre ihn in der Muschel.» Worauf die Bundesrätin erwidert: «Für mich klingt es wie ein Knacken.» – «Du meinst, wir werden abgehört?» – «Ich habe nichts zu verbergen.» Und vielsagend der Schatz: «Natürlich nicht. Deswegen müssen wir ja vorsichtig sein.»
Die Schauspieler proben eine Szene aus dem Theaterstück «Die Akte Bern». Christoph Frick, Regisseur an verschiedenen Stadt- und Staatstheatern, kichert mehr, als dass er kritisiert. Denn die Szene ist witzig. Immer wieder lassen sich die Darsteller von der Komik des Textes mitreissen.
Von Anspannung ist im düsteren Probenraum in der Berner Felsenau nichts zu spüren. Die Schauspieler sind so sattelfest in ihren Texten, dass sie schon fast bereit sind für die Premiere im Konzert Theater Bern.
Nachdem sie die Szene mehrmals durchgespielt haben, stehen sie am Regie-Tisch, verschlingen Migros-Budget-Schokolade und schlürfen Kaffee. Sie diskutieren, an welcher Textstelle man ein Knacken in der Leitung hören muss und wo es überflüssig scheint.
Ein Mann wird aus dem Papierberg gefischt
Wenig später machen sie sich für die nächste Szene bereit. Ausser einem Berg dicker Akten ist nichts zu sehen auf der Probebühne. Dafür zu hören. «Blablabla, blablabla, blablabla.» Ein Mann wird aus einem Papierberg gefischt und aufgerichtet, als sei auch er mehr Material als Mensch. Pesche (Jürg Wisbach) torkelt über die Bühne, schüttet Wein in sich hinein, als könnte ihm gerade dieser die Besinnung zurückbringen. In einem langen Monolog beginnt er, über die 80er-Jahre zu schwadronieren. «Der Mauerfall, der war in Bern nur ein ganz leises Geräusch.» … «Manchmal ist mir egal, was mein Kühlschrank denkt.» … «Da war sogar die Penislänge vermerkt.»
Die Überwachung im Zentrum
Dieser Monolog zeigt, worum es im Theaterstück «Die Akte Bern» geht: Thematisch bewegt es sich zwischen dem Fichenskandal und Facebook und rückt die Überwachung der Menschen ins Zentrum; einst durch den Staat, heute durch uns selber. Wer sein privates Leben auf sozialen Netzwerken ausbreitet, dessen Daten interessieren Wirtschaft und Politik, die daraus Kapital schlagen.
Während die Bühne in der ersten Szene dem «Chor der Asozialen» gehörte, stellt Pesche einen fiktiven Vertreter der 80er-Jahre dar, die vom Fichen-Skandal im November 1989 geprägt waren. Mit ihm auf der Bühne steht seine Nichte Anna (Florentine Krafft), die in den 90ern sozialisiert wurde und sich ohne Skepsis in sozialen Netzen tummelt. Sie ist der Freigabe ihrer Daten gegenüber positiv gestimmt. Und sie sieht kein Problem dabei, obwohl ihre eigene Mutter einst bespitzelt und zu einem Opfer der Fichen wurde.
Die fiktiven Teile wechseln sich mit dokumentarischen Interviews ab, in denen Schweizer Grössen zur Sprache kommen. So etwa alt Bundesrat Moritz Leuenberger (SP), der verstorbene Sänger Polo Hofer, die Nationalrätin Aline Trede (Grüne) oder der Informatiker Simon Gantenbein. Anschaulich wird der Inhalt dieser Interviews in Szenen, die der Chor der Asozialen (Milva Stark, David Berger, Nico Delpy) auf der Bühne darbietet.
Die dokumentarischen Interviews hat Tobi Müller geführt, der das Stück auch geschrieben hat. Der Autor und Kulturjournalist lebt in Berlin. In der Schweiz hat er mit seinem Bruder Mike Müller und Regisseur Rafael Sanchez mehrere Theaterstücke auf die Bühne gebracht. «Elternabend» und «Truppenbesuch» im Theater Neumarkt und «A1 – ein Stück Schweizer Strasse» im Schauspielhaus Zürich. Schon «Truppenbesuch» streifte die Fichen-Affäre am Rande, ein Thema, das ihn seither nicht mehr losliess. An den Münchner Kammerspielen kuratierte er mit Sarah Harrison eine Konferenz und mehrere Workshops zum Thema Überwachungspolitik. Vor zwei Jahren kam er mit Stephan Märki, dem Direktor des Konzert Theaters Bern, ins Gespräch und erhielt den Auftrag für das Stück «Die Akte Bern».
Die Akte Bern
Premiere: Do, 3.5., 19.30
Vidmar Bern
www.konzerttheaterbern.ch